1115 - Die Tränen des Toten
in das Dunkle Reich gestoßen worden. Ihre Macht fand dort gewisse Grenzen. Existieren konnte sie nur unter einem Schutzmantel, aber sie war in der Lage, ihre Kräfte auszusenden, und sie hatte es geschafft, nach langer Suche einen Helfer in der normalen Welt zu finden. Eben Shao. Sie war die allerletzte Person in einer langen Reihe von Kämpfern und Kämpferinnen, und ihr hatte Amaterasu auch die Armbrust und die Pfeile überlassen.
Nackt stand Shao vor dem Spiegel. Sie hielt die Augen halb geschlossen und schaute trotzdem hinein. In ihrem Innern schien sich das Blut verändert zu haben. Es brauste, es war wärmer geworden, und wenn sie auf die Spiegelfläche schaute, dann glaubte sie, daß sich die Umrisse langsam auflösten, um einer anderen Person Platz zu schaffen.
Der Spiegel wurde zum Tor. Ein schwaches goldenes Leuchten breitete sich auf der Fläche aus, und genau in der Mitte entdeckte Shao die Umrisse eines Gesichts.
Es gehörte der Sonnengöttin, die sogar eine entfernte Ähnlichkeit mit Shao aufwies. Das weiche Gesicht, der Mund, die Augen, der ernste Blick in die Ferne und das Dunkel dahinter. Noch jenseits des goldenen Schimmers. Eine Ahnung des Dunklen Reichs, in dem Amaterasu gefangen war.
Shao tat nichts mehr. Die Kampfkleidung lag unberührt auf ihrem Bett. Die Waffe ebenfalls.
Die Sonnengöttin nahm Kontakt mit Shao auf. Sie sprach nicht, sie drang auf dem Weg der Telepathie zu ihr hin. Gedanken formten sich zu Sätzen und übertrugen sich, so daß es auf diesem Weg zu einer Unterhaltung kommen konnte.
»Die Zeit ist wieder einmal reif, Shao. Du wirst jetzt kämpfen müssen…«
»Ich weiß es.«
»Unterschätze deine Feinde nicht. Sie sind sehr gefährlich. Sie vertrauen auf die Macht der finsteren Götter, die sie auch immer beschützt haben. Sie wollen Rache. Sie haben sich lange vorbereiten können. Die andere Welt hat es nicht verstanden und auch nicht vergessen, daß es Menschen gibt, die einen Mächtigen besiegt haben.«
»Shimada?«
»So hieß er.«
Shao schaute auf das Gesicht, das sich nicht verändert hatte. Auch wenn Amaterasu sprach, bewegte sie kaum ihre leicht goldfarbenen Lippen. Sie befand sich in einer anderen Welt, sie hatte nur ein Tor geöffnet. Verlassen konnte sie das Dunkle Reich nicht. Vielleicht irgendwann einmal.
»Was hat er damit zu tun?«
»Der Dunkle Schrecken will ihn rächen. Die Jigoku - die Hölle - hat nichts vergessen und auch Emma-Hoo, der Teufel, nicht. Es sollen diejenigen vernichtet werden, die auch Shimada vernichtet haben, und es sollen die Waffen zurück in ihren Besitz gelangen, die ihnen gehören. Sie haben lange gewartet. Aber sie fanden schließlich einen Menschen, der sich mit den Kräften der Finsternis eng verbunden fühlte. Als Lebender konnte er nicht viel ausrichten, nur seine geschäftliche Macht ausbauen. Als Toter aber und unter dem Schutz der Jigoku und des Dunklen Schreckens stehend, wird er den Weg gehen, der ihm vorgeschrieben wurde. Auch Tuma Agashi besitzt eine lange Ahnenreihe. Sie alle waren von Adel, und sie haben sich den finsteren Göttern zugewandt. Das hat Agashi nicht vergessen, und so gab ihm die andere Seite einen Helfer an die Hand.«
»Kann ich den Dunklen Schrecken besiegen?«
»Ich weiß es nicht. Er ist sehr stark. Du besitzt die Armbrust. Er kämpft mit Pfeil und Bogen. Man spricht davon, daß er nie zuvor ein Ziel verfehlt hat. Ich kann leider nicht viel für dich tun. Denke immer daran, wenn du ihm gegenüberstehst. Ich kann leider nicht viel für dich tun, aber ich kann versuchen, dir eine gewisse Stärke zu verleihen, wie es immer schon gewesen ist. Noch mehr Kraft, noch mehr Stärke, so daß du es schaffst, über dich selbst und über deine normalen Kräfte hinauszuwachsen. Mehr kann ich dir nicht mit auf den Weg geben. Und jetzt viel Glück, meine Freundin…«
Amaterasu zog sich wieder zurück. Shao konnte es in der Fläche des Spiegels genau beobachten.
Der Umriß ihres Gesichts war sowieso nicht sehr konturenscharf gewesen. Jetzt aber wölkte er auf und schien in einen Sog hineingeraten zu sein, der ihn endgültig verschwinden ließ.
Shao spürte noch eine Gänsehaut oder ein leichtes Brennen auf ihrer Haut. Sie hatte die Augen automatisch geschlossen. Sie wollte plötzlich mit sich ganz allein sein und auch in sich gehen. Sie spürte einen leichten Druck im Kopf und auch der leichte Schwindel ließ sich nicht wegreden.
Aber es gab auch die andere Seite.
Die neue Kraft!
Nie zuvor hatte sich
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