1116 - Der Hexenkelch
müßten wir ein Boot nehmen. Auf dem Wasser sind wir recht hilflos. Da steckt mehr dahinter.«
Keiner sprach. Die Stille war fast zu fühlen. Aber wir spürten auch, daß sie uns etwas sagen wollten.
Allein ihre Körperhaltung ließ darauf schließen.
»Etwas wird bald geschehen«, sagte Suko. »Da bin ich mir sicher.«
»Wir können auch von hier verschwinden!« schlug Alan Friedman vor. »Wir nehmen uns ein Boot und hauen ab. Ich weiß, wie man damit umgeht. Wäre immer noch besser, als…« Er sprach nicht mehr weiter, weil Josuah Black vortrat.
Der Mann mit dem Bart und der Mütze schien sich selbst nicht wohl in seiner Haut zu fühlen, aber er war hier so etwas wie der Chef und mußte auch dessen Aufgaben übernehmen. Daß er nervös war, sahen wir an seinen Händen, die sich unruhig bewegten.
»Ihr hättet zu Hause bleiben sollen!« sagte er so laut, damit alle ihn verstehen konnten. »Ihr hättet nicht kommen sollen, denn ihr habt das ganz große Unglück über uns gebracht.«
»Was soll das heißen?« fragte ich. »Habt ihr nicht lange genug unter dem Terror der Banshee gelitten?«
»Wir haben uns damit abgefunden.«
»Wie schön für euch. Den Beweis haben wir oben auf dem Friedhof gesehen.«
»Aber jetzt wird es härter«, sagte er. »Die Hexe läßt uns keine andere Wahl.«
»Wie hört sich das an?«
Black wußte nicht, wie er seine Gedanken in Worte fassen sollte. Er überlegte, er stöhnte auf und wischte über sein Gesicht. »Sie will auch. Ja, sie will euch. Sie will euch haben, erst dann läßt sie ihre Geiseln frei.«
Ich hörte nur Geiseln und fragte: »Was sind das für Geiseln? Wovon reden Sie?«
»Zwei Kinder. Es sind zwei Kinder hier von der Insel. Sie hat sie den Familien entrissen.«
Das war ein Treffer unterhalb der Gürtellinie. Unsere Feindin arbeitete mit allen Tricks. Sie wußte inzwischen, daß wir ihr gefährlich werden konnten. Deshalb griff sie zu anderen Mitteln und hatte sich ausgerechnet zwei Kinder geholt. Für mich war es verständlich, daß die Bewohner so scharf gegen uns waren.
»Kann das auch ein Bluff sein?« fragte Suko.
Ich wußte es nicht. Wenn ich mir die Leute allerdings anschaute, dann wollte ich daran nicht glauben. Diese Furcht war nicht gespielt, die steckte in ihnen.
»Scheiße!« flüsterte auch Alan Friedman, »damit habe ich nicht gerechnet. Tut mir leid.« Er sagte es wie jemand, der Schuld auf sich geladen hatte.
»Ihr habt wohl keine andere Wahl!« erklärte der ehemalige Kapitän.
»Und was passiert, wenn wir nicht darauf eingehen?« fragte ich.
»Dann müssen wir sie zwingen.«
Er brauchte nichts mehr hinzuzufügen. Wir wußten auch so Bescheid. Es würde zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung kommen. Wir würden uns gegen die Menschen verteidigen müssen. Möglicherweise auch mit Waffengewalt.
Der Rauch trieb noch immer über den Platz hinweg. Zwar roch er gleich, für mich allerdings hatte er schon einen anderen Geruch angenommen. Er was wie der vorbeistreifende Hauch des Todes und erinnerte mich auch daran, welche Kräfte diese verfluchte Hexe besaß. Sie konnte mit den Elementen spielen, wenn ich an das Feuer dachte, und sie brauchte hier vor nichts Angst zu haben.
Mein Blick streifte über die Gesichter der vor uns stehenden Menschen hinweg. Da war kein Lächeln zu erkennen. Die Lippen hielten sie fest zusammengepreßt, in den Augen sah ich kein Leben.
Sie schauten uns kalt und mitleidslos an. Aber auch die Angst war in den Blicken zu lesen. Angst um die Kinder, die von der Hexe geholt worden waren.
Es waren einfache Menschen, deren Leben in bestimmten Bahnen verlief und die es auch geschafft hatten, sich mit den ungewöhnlichen Vorgängen zu arrangieren. Sie hatten sich damit abgefunden, daß es Vorgänge und Dinge gab, die mit dem normalen Verstand nicht zu erklären waren. Wer so exponiert lebte wie sie, der mußt schon Kompromisse eingehen. Stormy Island war eben so etwas wie ein Refugium, das außerhalb der normalen Welt lag, obwohl es zu Europa gehörte.
»Sie will uns also«, sagte ich. »Warum? Was hat sie vor mit uns? Hat sie euch das auch gesagt?«
»Ihr werdet sterben!«
»Danke für die Ehrlichkeit, Mr. Black. Sie können sich vorstellen, daß dies keiner von uns will.«
»Aber die Kinder auch nicht. Sie sollen auch nicht sterben. Ich will das nicht. Keiner will es. Sie gehören zu uns, ihr nicht. Ihr seid Fremde auf der Insel.«
Alan Friedman wollte etwas sagen, doch ich stieß ihn an, so daß er sich
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