112 - Der tägliche Wahnsinn
zu irgendetwas musste das ja gut gewesen sein. Tatsächlich erinnerte ich mich an das eine oder andere Wort. In dem in sauberer Handschrift verfassten Text konnte ich ausmachen, dass der Brief an die Eltern des eben Verstorbenen gerichtet war. Weiterhin verstand ich noch, dass es um «Liebe» und «wichtige Menschen» ging. Und im letzten Satz bat er seine Eltern um Entschuldigung. Ich hielt seinen Abschiedsbrief in den Händen. War es also kein Unfall, wie von uns zunächst angenommen, sondern eine Selbsttötung wegen einer enttäuschten Liebe? Oder hatte er andere Probleme und wollte seinen Eltern in dem Brief versichern, dass ihm alles leidtäte? Unsere Spekulationen änderten nichts an der Tatsache: Er war jetzt tot. Und dabei war er gerade halb so alt wie ich.
In Absprache mit der Polizei ließen wir uns von unserem Callcenter in der Gerichtsmedizin ankündigen. Nach dem hiesigen Bestattungsgesetz darf man keine Toten im Rettungswagen transportieren, aber was sollten wir machen? Den Toten wieder ins Auto setzen? Wir hätten um diese Uhrzeit einen Bestatter, der eine Rufbereitschaft mit der Polizei vereinbart hatte, kommen lassen müssen. Das hätte mindestens eine halbe bis dreiviertel Stunde gedauert. Der Bestatter hätte dann den Leichnam übernehmen und für uns in die Gerichtsmedizin bringen müssen. Da ging es schneller, wenn wir es selbst machten. Die anschließende Reinigung des Patientenraums war sowieso fällig, und der Bereitschaft habende Bestatter würde es uns danken, wenn er heute Nacht durchschlafen durfte.
In der Gerichtsmedizin schoben wir den Verunfallten auf der Trage in den Kühlraum. Der etwa vier mal sechs Meter große Raum war auf einer Seite mit den aus Krimiserien bekannten Edelstahltüren ausgestattet, die übrigen Wände und der Boden waren cremefarben gefliest. Ein Edelstahltisch auf Rollen stand in einer Ecke. Ein Mitarbeiter der Gerichtsmedizin, mit einem Kittel über einem Pullover bekleidet und in Gummischlappen, zog den Tisch heran: «Hier können wir euren Kunden draufpacken. Dann muss er hier stehen bleiben, im Lagerraum ist momentan alles voll.» Beim Anheben des Körpers blieb die aufgeschnittene Kleidung des Mannes auf unserer Trage liegen. Augenblicklich ohrfeigte mich eine schwere Wolke: Nach seinem Tod hatte der Patient noch einen gehörigen Haufen in seiner Hose hinterlassen!
Wenn ich mich an eines im Dienst nie gewöhnen werde, so sind das diese Gerüche. Ich wandte mich sofort ab und ging ein paar Schritte vom Tisch weg, um vor mich hin zu würgen. Kringel tauchten vor meinen Augen auf, und ich hatte das Gefühl, mein Magen würde sich umdrehen. Gänseblümchen riechen anders.
Gott sei Dank ist hier alles gefliest, dachte ich, da wird die Reinigung des Bodens nicht lange dauern, wenn ich alles raushabe. Jedoch kam es nicht zum Äußersten. Hinter mir beendeten der Diensthabende der Klinik und Kevin feixend die Umlagerung. Ich fasste mich wieder, und wir schoben unsere Trage durch die zugige Tordurchfahrt vor der Kühlkammer. Kevin merkte, dass ich meine Probleme mit den Hinterlassenschaften des Toten hatte. «Was ist los mit dir? Schlechte Werte?», scherzte er. Aber er nahm mir das Entsorgen des beschmierten und duftenden Plastikschonbezugs auf der Trage ab. Es geht nichts über nette Kollegen!
Den Rettungswagen putzten und räumten wir allerdings wieder gemeinsam auf. Gegen halb fünf Uhr waren wir fertig mit allem und konnten uns wieder einsatzbereit melden. Da es keinen Einsatz gab, legten wir uns in den Ruheraum der Wache.
Als ich im stillen Zimmer auf dem Bett lag, kreisten meine Gedanken um den Fahrer, der in unserem RTW gestorben war. Was musste passieren, damit ein so junger Mensch keinen anderen Ausweg mehr sah, als sich selbst zu töten? Dass er seinen eigenen Tod geplant hatte, war aufgrund des Briefes offensichtlich. Aber wollte er sich wirklich an dieser Stelle umbringen? Diese Kurve hatte schon einige Male bei uns für Arbeit gesorgt, denn aufgrund der Straßenverhältnisse konnte man dort schnell die Kontrolle verlieren, wenn man mit zu hoher Geschwindigkeit unterwegs war. Und eine Zeugin hatte ausgesagt, dass er sie noch kurz vor dem Unfall waghalsig überholt hätte. Der Mast am Straßenrand ließ sich in der Dunkelheit auch nur schlecht erkennen. Häufig war er durch parkende Autos verstellt und erst zu sehen, wenn man schon die halbe Kurve hinter sich hatte. Es war also schwer, ihn absichtlich zu treffen. Wollte er sein Leben wirklich genau an
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