112 - Der tägliche Wahnsinn
allergisch?», fragte mein Kollege.
«Nachmittags habe ich eine neue Kosmetik ausprobiert, und am Abend ging es los. Seitdem habe ich diese Pickel! Und weil ich schwanger bin …»
Tatsächlich: Wenn man den Kopf so drehte, dass das Licht schräg auf das Gesicht traf, konnte man auf den Wangenknochen, unter der dicken Schminkschicht, winzige Erhebungen erahnen. Und schwanger war sie auch, zweifellos.
Sie erklärte uns nun, dass sich der Ausschlag nach dem Auftragen einer Gesichtsmaske gebildet hatte. Auf unsere Nachfragen bestätigte sie, dass sie keine Atembeschwerden hätte, keine Schwellungen, keine Schmerzen, nicht einmal ein Jucken. Nur Pickelchen
…
«Aber ich bin doch schwanger», wiederholte sie. «Und das sieht auch bescheuert aus. Das werden immer mehr …» Sie fing zu stammeln an, da sie selbst nicht mehr wusste, wie sie uns ihre «Reaktion», mittlerweile kurz vor zwei, als Notfall verklickern konnte.
Steffen bekam gestaute Halsvenen: «Sie wollen uns jetzt nicht ernsthaft sagen, dass Sie uns wegen der Pickel gerufen haben?»
«Äh … doch …»
Der Kollege platzte: «Also, wir rasen jetzt wie die Blöden durch die Nacht und machen den Verkehr strubbelig, weil Sie Pickel haben? Verstehe ich das richtig? Wissen Sie eigentlich, was so ein Einsatz die Kassen kostet? Im Stadtteil nebenan hat vielleicht jemand einen Herzinfarkt, und der muss warten, weil wir mit Ihren Hautproblemen beschäftigt sind?» Madame Make-up schwieg, stattdessen erinnerte ihr Gesicht an ein Testbild: bunt und inhaltsleer. «Glauben Sie nicht», fuhr Steffen fort, «dass es vielleicht zuträglich für Ihr Problem wäre, wenn Sie sich zumindest nachts mal abschminken, damit die Haut sich etwas erholen kann? Wir sind der Rettungsdienst, zuständig für lebensbedrohliche Notfälle. Kein Kosmetik-Notdienst!»
Bevor Steffen noch etwas sagte, was zu einer Beschwerde führen könnte, schob ich ihn beiseite
:
«Lass uns gehen. Das bringt doch nichts.» Dann wandte ich mich der verdattert dreinblickenden zukünftigen Mutter zu: «Und Sie werden morgen beim Hausarzt vorstellig, sollten die Pickel bis dahin nicht weg sein. Der macht in etwa sechs, sieben Stunden seine Praxis auf.»
Ihr Mann stand die ganze Zeit still hinter ihr. Ihm wurde die Sache bei genauerem Nachdenken anscheinend peinlich.
Wir kehrten dem Pärchen den Rücken. Langsam schien auch ihr klarzuwerden, dass sie etwas überreagiert hatte.
«Mitten in der Nacht den Rettungsdienst nur wegen so ein paar unansehnlicher Hautunreinheiten rufen», schimpfte Steffen, der sich nicht beruhigen konnte, auf dem Weg zum RTW . «Demnächst kommen wir, weil sie sich ihre Kunstfingernägel abgebrochen hat. Dieses Anspruchsdenken!»
An diesem Fall konnten wir wieder einmal sehen, dass die Menschen in ihrer Hilflosigkeit nicht mehr wissen, was ein echter Notfall ist und was nicht. Einsätze dieser Art werden immer häufiger – und letztlich zu einem großen Problem. Denn für jeden dieser «Notfälle» wird eine Rettungseinheit blockiert, die in derselben Zeit vielleicht zum Retten von Leben gebraucht wird.
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Kapitel 26 Ein Jedi-Ritter mit Atemmaske
Dieter steuerte unser Löschfahrzeug an einem Neujahrsmorgen gegen ein Uhr von einem Fehleinsatz zurück, bei dem wir zu einem angeblichen Dachstuhlbrand alarmiert worden waren. Dort eingetroffen hatten wir den gemeldeten Brand als qualmenden Kamin identifiziert. Gerade fing ich an zu überlegen, wie es denn mit meinen Vorsätzen fürs neue Jahr aussah, als die Leitstelle über Funk meldete: «Fahren Sie zur Kastanienallee 47 , dort brennt es vermutlich im Keller.» Der Wachführer quittierte unseren Einsatz: «Kastanienallee 47 , Kellerbrand. Verstanden, wir sind unterwegs.» Dieter schaltete das Blaulicht ein und beschleunigte die dreizehn Tonnen unseres Dienstfahrzeugs. Steffen und ich, in dieser Schicht waren wir der Angriffstrupp, zogen wieder unsere Brandschutzjacken an, die wir gerade erst nach dem Fehlalarm ausgezogen hatten, und setzten uns die Atemschutzgeräte auf den Rücken. Einen Moment später meldete sich die Leitstelle erneut: «Wir haben einige weitere Anrufer. Das Treppenhaus soll schon verqualmt sein. Mehrere Personen sind in ihren Wohnungen eingeschlossen.»
«Na, das kann ja was werden», unkte Steffen. «In der Straße steht doch ein Hochhaus neben dem anderen. Zig Menschen in einem Gebäude. Hoffentlich geraten die Bewohner nicht in Panik und hängen schon am kleinen Finger an der
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