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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Behring
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nachdem er den Kopf des Mannes ausfindig gemacht hatte, seine Hand zwischen Körper und Blech hindurch, bis er an die Halsschlagader gelangte. Etwas erschrocken rief er uns nach ein paar Sekunden sein Ergebnis zu: «Der hat ja doch noch einen Puls! Schwach, aber ich glaube, ich habe da was gefühlt.»
    «Crashrettung», rief der Chef der Mannschaft zu.
    Gewöhnlich wird angestrebt, dass der eingeklemmte Patient bei der Befreiung keinen weiteren Kratzer mehr bekommt, er wird möglichst schonend, in enger Absprache mit dem Notarzt, gerettet – wenn man die Zeit dazu hat. Bei einer Crashrettung hingegen zählt nur das nackte Leben, auch unter Inkaufnahme weiterer Verletzungen. Was nützt einem Eingeklemmten zum Beispiel ein tadelloses Bein, wenn die vorsichtige und langwierige Befreiung dazu führt, dass er in der Zwischenzeit verblutet?
    Hastig wurde jetzt der Generator für die Rettungsgeräte gestartet, und bald darauf brach die Fahrzeugtür unter der Gewalt des Spreizers endgültig aus ihrem Rahmen. Auch das dünne Blech des Kotflügels setzte dem hydraulischen Gerät keinen nennenswerten Widerstand entgegen, und der Mann konnte binnen weniger Momente aus dem Fahrzeugwrack gehoben werden. Kevin und ich hatten schon die Trage aus dem Rettungswagen geholt und neben dem verunfallten Wagen abgestellt, auf die der Fahrer jetzt abgelegt wurde. Nachdem wir den Patienten, einen etwa zwanzigjährigen Mann mit blondem, kurzem Haar, im Rettungswagen hatten, wurde rasch das EKG -Gerät angeschlossen, auf dem tatsächlich noch Herzaktionen zu sehen waren.
    «Schere, Intubation, Zugang!», kommandierte der Notarzt. Ich streckte ihm die Schere entgegen, während ich mit der anderen Hand die Sachen für die Intubation zusammenstellte. Kevin schob eine Kanüle in die Hand des verunfallten Mannes, der Mediziner schnitt dessen Kleider auf, um ihn genauer zu untersuchen. Meine Vorbereitungen zur Intubation waren beendet, und Kevin bereitete eine Infusion vor. Der Arzt hatte zeitgleich seinen ersten Check beendet. Das Becken sei nicht stabil, ließ er uns wissen, es ließe sich schmetterlingsartig auseinanderdrücken, und ein Oberschenkel sei gebrochen. Andere Verletzungen konnten wir ohne Erklärungen erkennen: Der Brustkorb sah so eckig aus, als würde ein Karton darin stecken, das Gesicht wies mehrere tiefe Platzwunden auf. Zudem ließ sich unter der blonden Kurzhaarfrisur mit etwas Druck ein Knochenbruch verschieben. Die Pupillen des Mannes waren schon unterschiedlich weit und unrund, was darauf hindeutete, dass das Gehirn langsam seine Arbeit einstellte. Aufgrund der vorgefundenen Lage des Mannes konnte man davon ausgehen, dass er zusätzlich starke innere Verletzungen hatte. Der Puls war kaum zu fühlen, und er hatte keine Atmung mehr. Der junge Mann hatte keine Chance, lebend aus dieser Nummer herauszukommen. Das EKG -Bild beruhigte sich recht bald in eine gerade Linie, der Blutdruck war nicht mehr messbar: Der Mann war tot.
    «Wir brauchen nichts mehr zu machen, da ist zu viel kaputt», sagte der Notarzt monoton. «Wahrscheinlich ist er innerlich verblutet. Zu schwer waren die Verletzungen, um diesen Unfall überleben zu können. Allein die Fraktur des Beckens und des Oberschenkels hätten den tödlichen Blutverlust verursachen können.»
    Wir lehnten uns zurück, um uns herum die aufgerissenen Tüten der ausgepackten medizinischen Hilfsmittel, ein vorbereitetes Beatmungsgerät, das wir nicht mehr benötigten, und ein Mensch auf der Trage, der vor ein paar Minuten vielleicht noch Musik aus seinem Autoradio gehört hatte.
    «Tja, da machst du nix, und dann auf einmal …», seufzte ich.
    Kevin legte die vorbereitete Infusion auf die Arbeitsfläche zwischen den Einbauschränken, als es an der Tür des Patientenraums klopfte. Ein Polizist fragte nach dem Zustand des Fahrers. Unsere Antwort: «Da konnten wir nichts mehr machen. Wir hatten zwar noch einen schwachen Puls, aber dann wollte er nicht mehr.»
    «Habt ihr denn schon die Personalien?»
    Kevin und der Doc durchsuchten die Taschen der aufgeschnittenen Jeans und fanden eine Geldbörse mit einem Führerschein. Und in der vorderen Tasche einen zusammengefalteten Zettel. Nach dem Auffalten stellte der Notarzt fest, dass er wohl auf Polnisch geschrieben sei und er nichts damit anfangen könne.
    «Gib mal her, ich hatte mal eine polnische Freundin», forderte ich ihn auf. «Vielleicht kann ich noch etwas übersetzen.» Vor fast zwanzig Jahren hatte ich etwas Polnisch gelernt –

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