1121 - Wenn Totenmasken leben...
unregelmäßigen Abständen waren die Pakete eingetroffen. Natürlich hatte er sich seine Gedanken darüber gemacht, was sie wohl beinhalteten. Da waren ihm viele Möglichkeiten durch den Kopf geschossen, und auch jetzt wusste er die Wahrheit nicht. Ihm war nur klargeworden, dass dieses Paket einen Inhalt enthielt, der auf keinen Fall für seine Augen bestimmt war.
Beide schauten sich an. Jolanda Juffi hatte ihr Lächeln beibehalten.
Sie stand neben dem Tisch und wirkte gespannt und entspannt zugleich. Sie wusste mehr, das stand fest. Sie war diejenige, die alles leitete, und er musste tun, was sie verlangte.
Sean begriff sich selbst nicht. Dabei war er nicht eben ängstlich. Er hätte sie locker niederschlagen und aus dem Haus gehen können.
Aber auch einfach so kehrtmachen und verschwinden. Da hätte er sich von keinem aufhalten lassen.
Er tat es trotzdem nicht. Warum bleibe ich hier stehen? schrie es in seinem Kopf. Warum verschwinde ich nicht einfach? Es hält mich nichts mehr. Die Alte kann mich kreuzweise…
Aber die hatte Macht. Äußerlich gab es keine Veränderung. Es floss nur ein anderer Strom. Es war etwas erweckt worden, was auch mit den klagenden Stimmen zu tun hatte, die jetzt wieder hörbar wurden.
So weinerlich, so leise, und auch so drohend. Stimmen, die irgendwo in der Tiefe des Hauses oder des Kellers ihren Ursprung hatten.
Menschen, Tiere oder beides?
Er konnte es nicht sagen und lauschte. In den klagenden Gesang hinein hörte er Jolanda sprechen. »Nun, was ist? Glaubst du mir jetzt? Sie wollen nicht, dass du gehst. Sie wünschen, dass du bei mir bleibst. Und ich muss ihnen gehorchen, mein Lieber. Du wirst bleiben.« Sie lächelte wieder breit. »Und zwar für immer.« Nach diesen Worten legte sie die linke Hand auf das Paket. »Und sicherlich möchtest du wissen, was sich darin befindet, oder?«
»Nein!«
»Lüg nicht!«
»Ich will es nicht mehr!«
»Ach, du willst es nicht?« Jolanda gab sich erstaunt. »Das überrascht mich wirklich. Doch nun ist alles anders, denn ich will es. Ja, ich will, dass du hineinschaust. Du sollst sehen, was darin ist. Du musst es sogar. Alles andere würde dich nur belasten. Ich werde dir den Inhalt zeigen, damit du endlich zur Ruhe kommst. Erst dann kannst du wieder durchatmen.«
Sean wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Es war alles so anders und fremd. Er fand sich in der Wirklichkeit nicht mehr zurecht, die sich für ihn verschoben hatte. Diese kleine Pension war Teil eines Märchenreichs geworden, in das man ihn hineingezogen hatte. Er dachte wieder an die Geschichten und Sagen, die man sich erzählte.
Auch als die Frau die Tischlade, aufzog, da bewegte er sich nicht.
Jolanda Juffi holte eine Schere hervor. Sie war recht groß und auch sehr stabil. Mit der Schere in der Hand wirkte sie noch gefährlicher.
Obwohl sie das Instrument nicht auf ihn gerichtet hielt, fühlte er sich bedroht.
»Schau genau hin, Sean, dann wirst du alles sehen. Du bist der erste, dem ich es zeige.«
Auch das wollte Sean nicht. Nur wagte er nicht, ihr etwas entgegenzuhalten. Er schaute nur zu, wie die Frau das Band zerschnitt.
Zweimal tat sie es.
»So weit bist du noch nicht gewesen, wie?«
»Nein, ich wollte auch nur…«
»Das ist jetzt nicht mehr wichtig, Sean. Ich habe mich längst damit abgefunden und werde dir nun einen Gefallen tun. Du sollst es wirklich alles sehen…«
Er konnte nichts sagen. Außerdem dachte er auch nicht mehr an sich persönlich, sondern nur an die verfluchte Schere, mit der Jolanda jetzt das Packpapier zerschnitt. Dabei entstanden die für ihn hässlichen Geräusche, aber sie waren nicht so laut, dass sie die anderen übertönt hätten.
Die Stimmen blieben…
Sie sangen wieder. Tief verborgen in den Geheimnissen dieses Hauses ließen sie ihr Klagen hören, und Sean fühlte sich von ihnen malträtiert und sogar auf eine gewisse Art und Weise gefoltert.
Unter dem Packpapier war der Karton zum Vorschein gekommen.
Hellgrau und unscheinbar. Mit einem Deckel, der an den Seiten mit durchsichtigen Streifen festgeklebt war.
Jolanda löste gelassen die Streifen. Die Schere hatte sie neben das Paket gelegt. Mit der linken Hand winkte sie den Briefträger näher zu sich heran.
Sean wollte nicht zu ihr gehen. Letztendlich blieb ihm nichts anderes übrig. Er musste nach vorn, es war wie ein Zwang, denn Jolanda besaß die Macht.
Dicht neben der linken Tischseite blieb er stehen. Jolanda sah er schräg gegenüber. Es war auf einmal still
Weitere Kostenlose Bücher