1121 - Wenn Totenmasken leben...
darauf, dass er etwas sagte. Sie hatte den linken Arm angewinkelt und den rechten erhoben. In der Hand hielt sie das Glas und schaute lächelnd über den Rand hinweg. Auf Sean wirkte sie wie eine künstliche Person, die einfach in das Leben hineingestellt worden war. Er konnte sich vorstellen, dass es plötzlich einen Knall gab und er in seinem Bett aufwachte. Nein, er fühlte sich nicht wohl. Es gab etwas, das ihn störte. Es sorgte auch für den Schweiß auf seiner Stirn. Es war einfach schrecklich. Er fühlte sich belauert wie jemand, der etwas falsch gemacht hat und nicht in der Lage ist, es wieder zu richten.
»Dann… ähm … dann … ich sage mal herzlichen Glückwunsch, Mrs. Juffi. Alles Gute für die nächsten Jahre, Madam. Sie haben es wirklich verdient, meine ich.«
»Danke sehr, junger Mann.«
Nach diesen Worten kam sie auf ihn zu, obwohl er das gar nicht wollte. Doch sie wollte mit ihm anstoßen. Sie wollte das Klingen der Gläser hören.
Der helle Ton wehte durch die Küche. Zwei Münder berührten die Ränder der Gläser. Jolanda Juffi trank den edlen Saft mit großem Vergnügen, während der Briefträger damit schon seine Schwierigkeiten hatte.
Zwar war der Champagner perfekt temperiert, für einen Kenner gemacht, aber das war Sean nicht. Er schluckte ihn wie Mineralwasser und verzog dabei sogar das Gesicht, weil er ihm säuerlich vorkam. Bis zur Hälfte hatte er das Glas geleert, dann stellte er es weg.
Genau zu dem Zeitpunkt, als auch Jolanda Juffi das Glas auf dem Tisch abstellte. Ihres allerdings war leer.
»Danke, das hast du gut gemacht, mein junger Freund. Lass dich umarmen.« Sie streckte ihm schon die Arme entgegen, lachte dabei, und ihr Gesicht glich einer Larve.
Darauf war Sean nicht vorbereitet gewesen. Er begann zu frieren.
Seine Haut zog sich zusammen, und der Atem drang wie ein leises Pfeifen aus seinem Mund. Ihm fielen nicht die richtigen Worte ein.
Es war zudem zu spät, denn Jolanda hatte ihn bereits erreicht, und er konnte ihrer Umarmung nicht entgehen.
Die Arme kamen ihm so lang vor. Für einen Moment dachte er an einen Kraken, der zwei seiner Tentakel um ihn geschlungen hatte, und in ihrem Griff versteifte er sich.
Er spürte ihren Atem an seinem linken Ohr. »Du kleiner, dummer Junge«, sagte die Juffi, »du kleiner, dummer Junge…«
Sean wusste nicht, was sie damit gemeint hatte. Er wollte auch keine Fragen stellen und hoffte nur, dieser menschlichen Falle so schnell wie möglich entwischen zu können.
Doch sie hielt ihn fest. Er wurde gegen ihren Körper gepresst. Unter dem Druck der kleinen Pailletten spürte er die Umrisse ihrer Brüste, er hörte ihr Atmen, doch ihre Stimme nicht mehr.
Sean traute sich nicht, die Umklammerung aus eigener Kraft zu lösen. Er kam sich wie vereist vor. Sie sagte nichts mehr. Kein Wort.
Selbst das Atmen hatte sie für eine Weile eingestellt.
Trotzdem hörte er etwas.
Es war ein leiser und unheimlich klingender Gesang, der von irgendwoher an seine Ohren drang. Sean wusste nicht, woher er kam.
Im Zimmer hielt sich niemand außer ihnen auf. Draußen hatte er auch keine Menschen gesehen, aber die Stimmen waren da.
Er bildete sie sich nicht ein. Sie schienen aus dem Fußboden zu dringen und an ihm hoch zu wehen. Sie klangen nicht fröhlich, sondern gequält, weinerlich und auch sehr traurig.
Der schaurige Grabgesang für einen Geburtstag, dessen Gäste nicht zu sehen waren.
Sean konnte sich nicht bewegen, weil Jolanda ihn noch immer festhielt. Beide waren sie erstarrt und wirkten wie ein Grabmal, das von einem verrückten Künstler geschaffen worden war.
Das traurige Jammern hörte nicht auf. Eine Elegie aus klagenden Lauten, die sich im gesamten Haus verteilt hatte. Überdeutlich roch er das Parfüm der Pensionswirtin. Überhaupt nahm er die Umgebung viel klarer wahr als sonst.
Sean wunderte sich selbst darüber, dass er in der Lage war, zu reden. »Die Stimmen…«, flüsterte er.
»Ja, hörst du sie auch?«
»Wer… wer singt?«
Zuerst lachte Jolanda, dann sagte sie. »Es ist der Gesang der Masken, der Totenmasken…«
Nach dieser Antwort war der Briefträger nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen. Normalerweise hätte er über eine derartige Antwort gelacht, auch wenn er in einem Landstrich lebte, in dem die Menschen oft genug über alte Legenden sprachen und sie als Tatsachen hinnahmen. Das alles hatte er nie für wahr gehalten, wenn ihm die Leute darüber erzählt hatten. Von Toten, die nicht richtig sterben
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