1122 - Der Prophet des Teufels
schnell davon und erreichte das Haus auch, ohne gesehen zu werden. Jetzt war sie wieder außer Atem und musste sich zunächst neben einem der unteren Fenster an der Mauer abstützen. Der Efeubewuchs federte sie ab, so hatte sie nicht das Gefühl, Gestein zu berühren.
Die Fenster lagen nicht sehr hoch. Wenn sie sich aufrichtete und ein wenige dabei streckte, konnte sie ohne Schwierigkeiten durch die Scheibe in den Raum spähen.
Sie tat es. Ihr stockte der Atem. Sie wollte und konnte nicht glauben, was sie sah. Der Pfarrer war nicht allein. Er hatte Besuch bekommen.
Sie kannte den Mann nicht, der ihr den Rücken zuwandte und auf den jungen Geistlichen schaute, der nahe der Tür stand und mit dem anderen sprach, aber Martha erinnerte sich sehr gut an Luises Beschreibung. Auch ohne die Gestalt vom Friedhof mit eigenen Augen gesehen zu haben, wusste sie, wer den Priester besucht hatte.
O Gott! schoss es ihr durch den Kopf. Beinahe hätte sie einen Schrei ausgestoßen. Im letzten Augenblick konnte sie ihn zurückhalten.
Sie sah nur den Rücken, nicht das Gesicht. Sie sah den Hut, den dunklen Umhang, und sie sah auch, wie sich der Fremde bewegt.
Oder etwa nicht? Martha rückte noch näher an die Scheibe heran, was ein Fehler war, denn ihr Atem legte einen feuchten Fleck auf das Glas, so dass ihr die Sicht erschwert wurde.
Vorsichtig wischte sie das Glas wieder klar und hatte jetzt eine bessere Sicht.
Ihr Gesicht zeigte eine wahre Skala von Gefühlen, in der der Schrecken und die Angst überwogen. Sie bekam etwas zu Gesicht, was sie noch nie gesehen hatte. Sie sah das Schimmern einer Sense, und sie sah eine Gestalt, die kein Mensch mehr war oder kein Mensch mehr sein konnte.
Das war auch nicht mehr der Kartenspieler. Sie machte sich da nichts vor. Im Arbeitsraum des Pfarrers stand ein schreckliches Skelett, dessen Knochenhand den Griff einer Sense umklammert hielt.
Martha war durch den Anblick so geschockt, dass sie zusammensackte und den Blickkontakt mit dem Zimmer verlor. Sie zitterte am ganzen Leib, sie schwitzte, sie schlug gleich mehrere Kreuzzeichen hintereinander und flüsterte dabei: »Heilige Mutter Gottes, bitte, lass es nicht wahr sein. Bitte nicht…«
Der nächste Blick. Diesmal von der Seite her, um einen noch besseren Überblick zu bekommen.
Jetzt stand die Tür zum Flur hin offen. Für einen winzigen Moment schöpfte Martha Hoffnung, die allerdings sehr bald dahinschwand, als sie das Schreckliche sah.
Das Skelett war aus dem Zimmer in den Flur hineingehuscht. Sie sah seinen Rücken, sie sah auch die Bewegungen, und sie wusste, dass der junge Pfarrer keine Chance mehr hatte, als die verdammte Sense von oben nach unten fuhr.
Die Waffe selbst hatte sie nicht gesehen, aber die Bewegung reichte ihr völlig aus.
Martha konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Alles drehte sich vor ihren Augen. Die grüne Wand aus Efeu war für sie zu einer schwankenden Angelegenheit geworden, und sie überkam der Eindruck, in den leicht verwilderten Garten hineinzusegeln.
Irgendwann kam sie wieder zu sich, und sie merkte auch, dass es ihr besser ging. Normal atmen, normalen Gedanken nachgehen, die Realität so sehen, wie sie war.
Dass sie sich auf den Boden gesetzt hatte, war ihr gar nicht bewusst geworden. Jetzt hockte sie im dichten Gras und starrte blicklos ins Leere. Allmählich wurde ihr bewusst, dass es sie noch gab, und dass auch die Vögel sangen wie immer. Dass die Wolken am Himmel standen und eine Decke bildeten, wobei die Schwüle kaum nachgelassen hatte. Wenn die Sonne zu sehen war, dann nur als ein gelblicher Schatten innerhalb der Wolkenschichten.
Martha stand auf. Bei dieser Bewegung fiel ihr wieder ein, wen sie im Haus des Pfarrers gesehen hatte. Die Erinnerung an das Skelett ließ ihr Herz wieder schneller schlagen. Dabeihatte ihr der Arzt große Aufregungen verboten, doch hier fühlte sie sich unschuldig.
Da hatte das Schicksal seine Hand im Spiel gehabt.
Jetzt war das Zimmer leer!
Einige Sekunden schaute sie durch das Fenster und versuchte, die Gedanken zu ordnen. Die Gestalt war gegangen. Beide waren verschwunden. Ebenso lautlos und geheim wie sie auch das Haus betreten hatten. Zwei Gestalten. Einmal der Mann vom Friedhof und zum anderen das schreckliche Skelett.
Oder doch nicht? Konnte es nicht sein, dass der Fremde und das Skelett eine Person waren? Du bist verrückt, sagte sich Martha, aber es war nicht von der Hand zu weisen, wenn sie den Teufel mit ins Spiel nahm. Ihm war alles
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