1133 - Der Mönch mit den Totenaugen
aber ich möchte trotzdem von dir wissen, ob du einen Verdacht hast, wer dich verfolgt und wer es auf dich abgesehen hat. Das müßtest du doch herausgefunden haben, und es muß einen Grund dafür geben.«
Alissa ließ sich Zeit mit der Antwort. Schließlich senkte sie den Kopf und flüsterte: »Ich kenne den Grund nicht. Ich weiß nur, daß es der Tod ist. So jedenfalls oder so ähnlich habe ich ihn immer auf Bildern gesehen.«
»Mit einer Sense?«
»Die trug er bei sich.«
»Er war aber kein schwarzes Skelett?«
»Nein, das auf keinen Fall.«
Da konnte ich schon beruhigter sein. Der Schwarze Tod hatte sich nicht an ihre Spur geheftet, was auch schlecht möglich war, da ich ihn vernichtet hatte. Doch Nachahmer waren nie auszuschließen.
»Getan hat er dir nichts?«
»Nein.«
»Kannst du dir denn vorstellen, warum er dir auf der Spur ist? Da muß es doch einen Grund geben?«
»Bestimmt«, sagte sie leise und rieb ihre Handflächen über die Oberschenkel, die vom Mantel bedeckt waren. »So sehr ich auch überlegt habe, sogar zusammen mit Father Ignatius, ich kenne ihn einfach nicht, John.«
»Das stimmt«, bestätigte mein Freund.
»Es gibt ein Motiv«, sagte ich. »Nichts geschieht ohne Grund. Das brauche ich dir nicht zu sagen, Ignatius.«
»Ja, du hast recht. Ich bin der Meinung, daß wir diesen Grund in Alissas Vergangenheit suchen müssen. Dort gibt es so etwas wie einen wunden Punkt.«
Ich sprach wieder Alissa an. »Was weißt du über dich selbst?«
»Kaum etwas.«
»Ah, das kann ich nicht glauben. Jeder Mensch hat eine Vergangenheit. Auch du machst da keine Ausnahme.«
»Die habe ich auch. Aber sie liegt im Dunkeln.«
»Frag sie nach den Eltern«, flüsterte Ignatius mir zu.
Das tat ich auch, und Alissa senkte den Kopf. »Ich habe keine Erinnerung an meine Mutter und auch keine an meinen Vater. Das mußt du mir glauben.«
»Aber es muß sie gegeben haben.«
»Ja.«
»Du bist in einem Waisenhaus aufgewachsen?«
Sie nickte.
»Was hat man dir dort über deine Eltern erzählt? Man wird doch mit dir darüber gesprochen haben.«
»Wenig.«
»Aber etwas.«
»Ich bin sehr früh dort hingekommen.«
»Wann?«
»Als Baby.«
»Dann hat deine Mutter dich abgegeben?«
»Ich war ein Findelkind«, gab sie flüsternd zu, als würde sie sich dafür schämen. »Man hat mich vor die Tür des Waisenhauses gelegt. So wurde es mir berichtet. Doch niemand konnte mir sagen, wer meine Mutter ist. Die hat sich nicht gezeigt. Sie ist bei Nacht und Nebel wieder verschwunden.«
»Hat sie sich danach nie mehr bei dir oder bei den Leuten im Waisenhaus gemeldet?«
»Nein.«
»Was geschah weiter?«
Alissa zuckte mit den Schultern. »Die Schwestern zogen mich groß. Ich kam in die Schule, und dort muß ich den Lehrern wohl aufgefallen sein, denn sie schickten mich auf ein Gymnasium. Ich fand es toll, und ich habe es auch abgeschlossen.«
»Was passierte danach?«
»Da bin ich dann aus dem Waisenhaus entlassen worden. Aber ich konnte auf Grund meiner guten Abschlüsse studieren. Ich habe mich für Kunst- und Kirchengeschichte entschieden. Es sind Fächer, die mir sehr liegen und auch gefallen. Schon damals habe ich mich zu Kirchen und Klöstern hingezogen gefühlt. Den Grund kannte ich selbst nicht, aber es ist so gewesen. Mich haben diese Bauwerke schon immer fasziniert, und mein Besuch im Vatikan war eigentlich keine direkte Flucht. Ich hatte Zugang.«
»Bist du fertig mit dem Studium?«
»Fast. Aber ich habe immer in der Praxis gearbeitet.«
»Okay, da weiß ich ja schon mehr. Klöster und Kirchen«, nahm ich den Faden wieder auf. »Hattest du einen besonderen Grund, dich dafür zu interessieren? Ich möchte jetzt das Gefühl der Dankbarkeit mal vergessen.«
Alissa runzelte die Stirn. »Wieso fragst du mich das?«
»Weil ich mehr über dich erfahren möchte.«
»Ja, du hast recht. Das ist der Fall gewesen. Es gab diesen Grund, aber ich kann ihn nicht rational erklären. Er kam von innen. Er stieg in mir hoch. Es war etwas Besonderes. Er war oder es war wie ein Antrieb für mich, es war mir unmöglich, mich dagegen zu wehren. Ich habe mich in den alten Mauern stets geborgen gefühlt. Sie waren mir auf keinen Fall fremd, John.«
»Das ist interessant. Hast du mal über die Gründe nachgedacht?«
Sie atmete schnaufend. »Sie können in meiner Vergangenheit begraben liegen.«
»Im Waisenhaus?« erkundigte ich mich skeptisch.
»Nein, das nicht. Ich denke mehr an die Vergangenheit meiner Eltern. Da
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