1136 - Das Blut der Bernadette
Grab stehen. Ich kannte mich auf Friedhöfen aus und war schon öfter vor einem bestimmten Grab stehengeblieben, in dem meine Eltern lagen. Hier erfaßten mich andere Gefühle. Ich war angespannt. Mir gefiel dieser schwarze Todesengel nicht. Obwohl er seinen Kopf leicht zur Seite geneigt hatte, sah ich in dieser Haltung keine Demut. Es war eher ein gewisses Lauern und Abwarten, was wohl passieren würde.
Die Stille war geblieben. Ich merkte nur das Streicheln des schwachen Winds auf meiner Haut. Die Beklemmung verschwand nicht, und ich ging dann näher an die Figur heran, wobei ich es vermied, das Grab zu betreten und dort einen Fußabdruck zu hinterlassen.
Neben dem Todesengel blieb ich stehen. Aus dieser Entfernung fiel mir jedes Detail an ihm auf. Er hatte die Arme zur Seite gestreckt und dabei die Hände zu Fäusten geballt.
Aus der rechten Hand schaute etwas hervor. Aus der Distanz hatte ich es für einen Schatten gehalten. Jetzt sah ich es besser. Es war ein Kreuz.
Ein auf den Kopf gestelltes Kreuz schaute aus der Faust des Todesengels hervor. Sofort erinnerte ich mich an das Kreuz im Mordzimmer. Auch das war auf den Kopf gestellt worden. Diese beiden Zeichen reichten mir als Hinweise. Hier regierte nicht der Allmächtige, sondern eher sein Todfeind, der Teufel.
Das wußte nicht nur ich, das mußte auch dieser Oberin bekannt sein. Vermutlich stand sie auf der anderen Seite, und diese Figur war der Joker in ihrem Spiel.
Ich faßte sie an.
Das Gestein war kalt. Zumindest im ersten Augenblick. Dann ließ ich meine Hände weiter über die Schulter und hinab bis zur Brust hin gleiten, und es trat etwas ein, das mich ebenfalls verwunderte, wenn nicht erschreckte.
Es gab warme Stellen auf dem Gestein. Ich tastete mich weiter, erlebte die normale Kälte und dann wieder eine gewisse Wärme, die ungefähr Körpertemperatur hatte.
Des Rätsels Lösung war nicht schwer zu finden. Überall dort, wo ich die Wärme ertastet hatte, zogen sich die andersartigen Einschlüsse hin. Sie strahlten die Temperatur ab, die dort verschwand, wo auch die Einschlüsse aufhörten.
Es war für mich der letzte Beweis, daß mit dieser Figur etwas nicht in Ordnung war. Sie stand nach meinem Dafürhalten unter einem schwarzmagischen Bann, und ich war gespannt darauf, wie sie reagierte, wenn ich mein Kreuz einsetzte.
Ich hatte meine Hand schon unter das Hemd geschoben, als mich etwas ablenkte und störte.
Es war ein Geräusch gewesen, und es hatte sich angehört, als wäre eine Tür zugefallen.
Ich vergaß das Kreuz und wartete ab. Zunächst hörte ich nichts, wenig später jedoch erklangen Schritte, und sie näherten sich vom Haus her und kamen auf das Grab zu.
Das leise Knirschen beunruhigte mich. Es waren mindestens zwei Personen, die das Haus verlassen hatten. Auf keinen Fall wollte ich gesehen werden und zog mich so schnell wie möglich wieder an den Ausgangsort zurück.
Neben und auch halb hinter der Brombeerhecke verborgen wartete ich ab. Noch war es hell genug, um ohne künstliches Licht etwas erkennen zu können. Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, wer das Grab hier besuchen wollte und war auch nicht überrascht, als ich zwei junge Mädchen erkannte.
Sie mußten so um die siebzehn Jahre alt sein und waren gleich angezogen. Graue Kleider, dicke Strumpfhosen, kurze Haare, einmal blond, einmal braun. Festes Schuhwerk und Gesichter, die auf mich wie erstarrt wirkten.
Eine Schülerin trug eine Gießkanne in der rechten Hand. Sie war gefüllt, das sah ich daran, wie sie die Kanne trug. Sie hatten den Weg von der Rückseite des Klosters genommen und gingen geradewegs auf das Grab zu.
Beide waren sich ihrer Sache sicher. Sie blieben nicht stehen, um zu schauten, ob die Luft auch rein war. Sie kamen ihrer Pflicht nach.
Wenn jemand eine Gießkanne trägt, dann will er etwas bewässern. Im Sommer keine Frage, aber zu dieser Jahreszeit brauchte die Natur kein Wasser zusätzlich vom Menschen. Da regnete es genug.
Außerdem wuchsen auf dem Grab keine Pflanzen. Es war nur diese flache Erde zu sehen.
Die beiden Schülerinnen gingen mit leichten Schritten über den Rasen nahe der Grabstätte.
Auch jetzt blickten sie sich nicht um. Ihre Sicherheit war nicht gespielt. Sie blieben am Fußende stehen, und die Gießkanne wurde auf den Boden gestellt. Sie stand jetzt zwischen ihnen.
Beide Mädchen schauten den Engel an. Sie hatten sich zusammengefunden wie zu einem stummen Gebet, ohne jedoch dabei die Hände zu falten. Bisher
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