1136 - Das Blut der Bernadette
Eingang zugehen wollte, zögerte noch, weil sie Pollys Furcht bemerkte. Mit kleinen Schritten ging sie um den Wagen herum, und Jane reichte ihr den Arm. Die Stütze nahm Polly dankbar an.
»Ich habe das Gefühl, überhaupt nicht mehr normal zu gehen, sondern in der Luft zu schweben. Meine Knie sind so weich. Ich… ich… könnte nach jedem Schritt einknicken.«
»Das kenne ich.«
»Ja? Hast du auch mal Angst?«
»Und wie.«
»Das beruhigt mich etwas.«
Das Heim rückte näher. Ein wuchtiger Bau mit einer düsteren Fassade. Hier war nichts Fröhliches zu sehen.
Es gab keine Treppe vor dem Eingang. Beide gingen auf die Tür zu, die aus dunklem Holz bestand, auf das dicke Bretter diagonal geleimt worden waren.
»Wir müssen klingeln, Jane.«
»Dann tun wir das doch!«
Der Ton war schrill und zerriß die Stille im Haus. Polly bewegte sich nicht. Sie stand neben Jane und nagte nervös an ihrer Unterlippe. Es dauerte nicht lange, da wurde die Tür mit einem heftigen Ruck nach innen gezogen.
Licht drang ihnen entgegen. Jane fühlte sich wie auf dem Präsentierteller.
Vor ihr stand eine unbekannte Frau. Sie hätte sich nicht vorzustellen brauchen, denn die Detektivin wußte sofort, um wen es sich handelte.
Es war die Oberin Bernadette. Ungefähr fünfzig Jahre. Hochgewachsen, mit einem schlichten grauen Kleid bekleidet, das mehr wie ein Kittel aussah. Auf dem Kopf trug sie eine Schwesternhaube, die wie bei Polly als Sonnenschutz in den Nacken reichte.
Sie hatte ein Durchschnittsgesicht mit normalen Altersfalten, einem etwas schmalen Mund und leichtem Haarwuchs auf der Oberlippe. Das Haar war schwarzgrau.
Auffallend an ihr waren die Augen!
Dunkel, glitzernd. Fast wie zwei Geheimnisträger, die alles verbargen und nichts nach außen ließen.
Es waren Augen, vor denen man sich fürchten konnte, und Jane, merkte, wie Polly sich an ihrem Arm festklammerte.
Der Blick der Oberin richtete sich auf ihre Sekretärin. »Hallo, Polly, es ist schön, daß du wieder bei uns bist. Wir haben uns schon Sorgen gemacht.«
Jane stieß Polly leicht an, damit sie Bescheid wußte, was sie jetzt zu sagen hatte.
»Es tut mir ja auch leid, daß ich Sie enttäuscht habe, Bernadette, aber es ging alles so plötzlich. Ich… ich ja, ich habe Besuch bekommen.«
»Das sehe ich. Wer ist die Dame?«
»Meine Kusine.«
»Ah, interessant.« Sie richtete ihren Blick auf die Detektivin, und Jane sagte schnell ihren Namen.
Die Oberin nickte. »Von Ihnen habe ich noch nie etwas gehört, Jane. So darf ich doch sagen - oder?«
»Bitte.«
»Dann kommen Sie mal rein.« Sie lächelte breit und gab sich menschenfreundlich. »Am besten wird es sein, wenn wir in mein Büro gehen. Folgen Sie mir bitte.«
Jane schloß nach dem Eintreten die Tür, zwinkerte Polly zu und flüsterte dabei: »Ist doch gut gelaufen…«
Polly zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht so recht, Jane. Man kann ihr nicht trauen. Sie ist eine perfekte Schauspielerin. Sie hört und sieht alles.«
»Mal sehen.«
Die Oberin schritt durch die kahle Halle. Es war still im Haus. Jane sah eine breite Steintreppe, die nach oben führte. Von der hohen Decke hingen Kugelleuchten, deren Schein auf dem Steinboden einen harten Glanz hinterließ. Auf dieser Ebene standen zwei Flure zur Verfügung, die nach rechts und links wegführten. Die Frauen nahmen den rechten, der ziemlich düster war. Zwar brannten auch hier Deckenleuchten, doch ihr Schein sickerte in die grau gestrichenen Wände ein, als wären sie ein Schwamm, der alles in sich hineinziehen wollte. Sie passierten zwei breite Türen und schauten dabei immer auf den Rücken und die Haube der vor ihnen gehenden Oberin.
Vor der dritten Tür blieb die Frau stehen.
»Dahinter liegt ihr Büro«, flüsterte Polly.
Bernadette drehte den Kopf. Sie lächelte. Auf ihrem Gesicht verteilten sich Schatten und Licht zugleich, und deshalb wirkte das Lächeln schon etwas dämonisch.
»Ich bin ja so froh, daß ich dich wieder zurückbekommen habe, Polly. Ohne dich bin ich hilflos.«
»Nein, Bernadette, das dürfen Sie so nicht sagen. Sie machen mich ganz verlegen.«
»Doch, ich habe um dich gebangt. Das ist ja jetzt vorbei. Ich bin froh, dich wieder hier zu haben. Auch wenn ich mich wiederhole. Das muß gesagt werden.« Nach diesen Worten drückte sie die Tür auf und ließ die beiden Frauen vor in ihr Büro gehen.
Schon beim Überschreiten der Schwelle wußte Jane, daß sie sich in einem derartigen Raum nie würde wohlfühlen können. Er
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