1136 - Das Blut der Bernadette
geworden. »Wir alle lieben sie. Sie ist uns so nahe. Sie ist einfach wunderbar. Jemand wie sie stirbt nie, das weiß auch Polly, und das kann ich Ihnen versprechen, Jane.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Sekretärin. »Sag es deiner«, ein knappes Lachen unterbrach ihre Worte, »deiner Kusine.«
»Stimmt das, Polly?«
»Ja, sie hat recht. Das Grab befindet sich auf dem Gelände. Wir müssen es besuchen, denn wir sollen lernen, die Gründerin auch als Figur zu lieben.«
Jane hob die Augenbrauen. »Das ist, vornehm gesagt, schon ein wenig abstrakt.«
»Nein« widersprach die Oberin. »Es ist die reine Dankbarkeit. Wo wären denn die Mädchen ohne ihre Initiative? Irgendwo in der Gosse. Sie wären verkommen. Sie hätten keine Chance mehr gehabt. Sie wären einfach untergetaucht. So aber werden sie zu normalen Menschen erzogen und können später der Welt einen großen Dienst erweisen.«
»In Bernadettes Sinn, wie?«
»Sie haben es erfaßt, Jane. Es geht nur um unsere Gründerin. Sie hat die neuen Wege geebnet. Sie ist es, die der Moral einen neuen Namen gegeben hat. Deshalb lieben wir sie alle. Es ist einfach wunderbar, wenn wir an sie denken.«
»Das Bild hängt ja hinter Ihnen.«
Die Oberin lächelte. »Natürlich. Es ist auch wichtig, und es ist nicht das einzige Bild, das es von ihr gibt. Überall werden Sie diesen Andenken begegnen. In jedem Zimmer, in jedem Flur. Alle unsere Schülerinnen sollen an sie erinnert und zu großer Dankbarkeit ihr gegenüber geführt werden.«
»Verstehe«, murmelte Jane. »Es gibt also nur sie.«
»Genau.«
»Und die Dankbarkeit muß sein?«
»Das sagte ich Ihnen schon.«
»Wie dankbar sollen die Mädchen ihr gegenüber sein? Gibt es da einen Maßstab?«
»Sie sind bereit, alles für sie zu tun. Wer einmal zugestimmt hat, kommt nicht mehr los. Er hat sich für immer und ewig verpflichtet. Selbst der Tod kann das Band nur schwerlich lösen.«
Allmählich kam sie zur Sache. Jane hatte Mühe, gleichgültig zu bleiben, denn sie dachte wieder an die Erhängte. »Und wenn sich eines der Mädchen gegen sie stemmt und trotzdem nicht den Weg gehen will, der ihr vorgeschrieben ist?«
»Ich würde es keiner Person raten.«
»Wie endet es?«
»Schlimm.«
Jane fragte konkreter. »Mit dem Tod?«
Die Oberin hatte ihren Spaß, obwohl Jane es alles andere als spaßig fand. »Das Leben endet immer mit dem Tod, und bei der Undankbarkeit ist es das gleiche.«
»War Rita undankbar?«
»Sie wollte weg!« sagte Bernadette knallhart.
»Sie war keine Waise…«
Zum erstenmal zeigte sich die Oberin überrascht. »Dann hatte sie noch Eltern?«
»In der Tat. Und die haben nach ihr suchen lassen, Bernadette. Ich habe den Auftrag erhalten, sie aus dem Kloster rauszuholen. Und ich habe sie gefunden.«
Bernadette tat, als wollte sie es nicht glauben. »Gefunden? Wo haben Sie Rita gefunden? Was hat sie Ihnen gesagt?«
»Nichts mehr. Gehängte oder Tote können bekanntlich nicht sprechen. Das sollte Ihnen doch klar sein.«
Zum erstenmal hatte auch Polly gehört, was mit ihrer Freundin genau passiert war. Bisher hatte sich Jane mit genauen Auskünften zurückgehalten. Jetzt, wo sie die Wahrheit kannte, begann sie zu stöhnen und zu zittern.
»Ist das wahr?«
»Es stimmt leider.«
»Aufgehängt?«
Jane nickte.
»Wer hat das getan?«
»Ich weiß es nicht. Aber sie ist nicht die einzige Person, die starb. Ich habe zwei weitere Leichen gefunden, die überhaupt nichts mit dem Kloster zu tun haben. Bauern. Ein Mann und eine Frau. Ihnen gehörte der Hof. Rita ist wohl zu ihnen geflüchtet, aber der oder die Mörder haben keine Gnade gekannt. Sie haben alle Spuren gelöscht. Brutal wie sie sind.« Jane hatte bewußt hart gesprochen, und sie hatte Bernadette auch nicht aus den Augen gelassen, die jedes Wort aufgesaugt und ihren Mund zu einem Lächeln verzogen hatte. Sie sah aus, als hätte sie alles genossen.
Das mußte der Fall gewesen sein. Rita war ein Problem gewesen, und man hatte es aus der Welt geschafft.
Polly begann zu weinen. Um sie konnte sich Jane jetzt nicht kümmern. Ihr Interesse galt der Oberin.
»Mord«, sagte sie mit harter Stimme. »Brutaler dreifacher Mord. Ich begreife es nicht. Soll das wirklich in ihrem Sinne gewesen sein? Hat die Gründerin Bernadette das gewollt?«
»Niemand darf uns in die Quere kommen. Wir haben ein Geheimnis zu verwalten. Wir sind Eingeweihte und bewegen uns auf dem richtigen Weg. Und wir werden das große Geheimnis unserer Gründerin
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