1137 - Madame Tarock
Namen?«
»Ich heiße Zingara. Es ist ein weiser Name. Der Name eines alten Volkes.«
»Der Zigeuner?«
»Ja, sie haben ihn mitgebracht. Aber ich habe noch einen zweiten Namen. Madame Tarock!«
Harry schrak zusammen. Er spürte auch den kalten Schauer auf seiner Haut. Für einen Moment stand er da, ohne etwas denken zu können. Tarock war ein altes, geheimnisumwittertes Karten-Orakel, auf das sich auch heute noch zahlreiche Menschen verließen. Nicht wenige Wahrsager und Deuter arbeiteten mit den Karten. Viel Bedeutung hatte Harry ihnen bisher nicht beigemessen. Das änderte sich nun, als er die Antwort von Zingara hörte.
»Du liest Karten?« fragte er.
»Ich lese in oder aus ihnen, was sie mir über das Schicksal derjenigen sagen, die mich besuchen.«
»So ist das«, sagte er leise. »Und… ähm… die Menschen glauben auch daran?«
»Sonst kämen sie nicht zu mir.«
»Ja, das stimmt auch wieder.«
»Ich sage den Leuten die Wahrheit, Harry. Nicht die ganze, die ich sehe, wenn es für sie zu schlimm ist. Aber einen Grossteil schon, und es trifft auch zu.«
Harry schaffte sogar ein Lächeln. »Seltsam, ich glaube dir, obwohl ich noch keinen Beweis erhalten habe. Ich kenne nicht viele Wahrsagerinnen«, führte er das Gespräch auf ein bestimmtes Thema hin, »aber ich kann mir nicht vorstellen, dass alle aus deiner Zunft nicht zu töten sind. Ich habe gesehen, wie man dich erschossen hat. Ich bin leider etwas zu spät gekommen, sonst hätte ich versucht, es zu verhindern. Ja, ich habe dich tot auf dem Boden liegen sehen. Trotzdem stehst du jetzt vor mir und sprichst mit mir wie eine normale lebende Person. Hast du es geschafft, die Naturgesetze auf den Kopf zu stellen?«
»Die Natur und ich sind eins.«
»Du bist tot gewesen.«
»Ja und nein.«
Harry gefielen die knappen Antworten nicht. Er hätte gern mehr erfahren, aber Zingara lächelte nur und schüttelte den Kopf, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Geh deinen Weg, Harry, aber geh ihn richtig.«
Er musste sich räuspern. »Wie… wie… meinst du das?«
»Ich kenne die Zukunft, Harry.«
Er lachte, und es hörte sich unsicher an. »Ja, das habe ich schon von anderen gehört und…«
»Aber bei mir stimmt es«, sagte sie im Flüsterton. »Ich weiß, daß du etwas vorhast, wenn ich dich jetzt verlasse, aber ich weiß nicht, ob es gut für dich ist.«
»Klar. Jeder Mensch hat etwas vor. Da will ich auch nicht widersprechen. Ich habe einen Beruf…«
»Geh ihm nach.«
»Das werde ich auch. Darauf kannst du dich verlassen…«
»Aber wage dich nicht zu weit vor, Harry. Es gibt Grenzen. Es gibt Dinge, die auch für dich tabu sein sollten. Rüttle nicht an verschlossenen Türen. Vergiss mich, auch wenn es dir schwerfällt. Geh weg aus der Umgebung von Berlin.«
»Du lebst dort?«
»Ja, meine Kunden sind in der Nähe.«
»Politiker?«
Sie lächelte geheimnisvoll. »Auch sie. Niemand kennt mich so recht wie du mich erlebt hast…«
»Bist du denn tot?« sprach er sie direkt an. »Bist du eine lebende Tote? Bist du ein weiblicher Zombie? Ein Wesen, das nicht zu atmen braucht? Eine Maschine, die…«
»Ich bin alles zusammen«, sprach Zingara in seine Worte hinein. »Freu dich, dass du lebst.« Sie nickte ihm noch einmal zu und ging dann weg.
Harry Stahl war nicht in der Lage, sie aufzuhalten. Er starrte ihren Rücken an und glaubte, dass alles vorbei war. Doch er irrte sich. Das Unwahrscheinliche stand ihm noch bevor, denn nach dem dritten Schritt hob sie ihre Arme an und legte ihre Hände gegen die untere Hälfte des Kopfes.
Nur für einen Moment, nur für die Dauer eines Zuckens und der leichten Kraftanstrengung.
Auf einmal drehte sie den Kopf herum!
Harry Stahl konnte es nicht fassen. Er hörte kein Knacken, kein Brechen, nichts. Er sah nur, dass er plötzlich in das Gesicht der- Frau schaute, obwohl sie von ihm wegging.
Harry bekam weiche Knie. Zum Glück stand der Wagen des Killers als Stütze in der Nähe. Seine Augen waren groß geworden wie selten. Die Knie waren dabei, nachzugeben, und er schaute zu, wie sie durch das offene Tor auf den Friedhof ging und sehr bald aus seinem Sichtfeld verschwunden war.
Harry Stahl musste sich kneifen, um zu wissen, dass er nicht träumte. Er hatte schon einiges erlebt, aber so etwas nicht. Das glaubte ihm keiner, wenn er das erzählte.
Es dauerte seine Zeit, bis er sich gefangen hatte. Dann überlegte er, ob er Madame Tarock auf den Friedhof folgen und sie suchen sollte. Nein, er dachte an
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