1137 - Madame Tarock
einen Moment liegen, bevor sie sie dann wieder anhob.
Koss konnte nicht anders, er mußte auf die Karte schauen. Sie war zur Hälfte verkohlt, aber der Hand war nichts geschehen. Sie hätte ebenfalls verbrannt sein müssen, aber er sah, dass nichts passiert war.
»Warum?« flüsterte er und schüttelte zugleich den Kopf. »Was ist da passiert?«
»Das siehst du.«
»Ja, aber…«
»Es ist dein Schicksal. Stell dir vor, Victor, du teilst diese Karte in zwei Hälften. Die eine Hälfte bin ich, die andere bist du. Deine Hälfte ist verbrannt, meine aber nicht. Und jetzt vergleiche das mit deinem Schicksal.«
Mehr brauchte sie ihm nicht zu sagen. Er wusste plötzlich Bescheid. Er hatte das Gefühl, Salzsäure getrunken zu haben, und eine zweite Haut umspannte seinen Körper.
»Verbrennen?« fragte er trotzdem mit heiserer Stimme. »Ich… ich… soll verbrennen?«
»Ja, Victor. Die Karte hat es angezeigt.«
Er verfluchte die Wahrsagerin. Er verfluchte ihre Sicherheit, und er verfluchte auch sich, weil er sich auf dieses verdammte Spiel eingelassen hatte.
Aus seinem Mund drang ein tiefes Stöhnen. Jeder Herzschlag war jetzt ein Treffer wie mit einem Hammer. In seinem Kopf dröhnte es. Er war mittlerweile fünfzig Jahre alt geworden, und er hatte es auch geschafft, in Berlin ein Imperium aufzubauen, in dem er der Herr war. Dass es auch anders kommen konnte, das hätte er sich so schlimm nicht vorstellen können. Er war beim ersten Mal zu Madame Tarock gegangen, um sich sagen zu lassen, wie toll es weitergehen würde.
Das sah jetzt nicht so aus.
»Ich werde nicht sterben!« flüsterte er ihr zu. »Ich werde, verdammt noch mal, nicht verbrennen, das kann ich dir schwören. Du bist irgendwie kein Mensch mehr, du bist mir unheimlich. Ich habe dir noch eine Chance gegeben, nachdem Rosner versagt hat. Ja, es stimmt, ich wollte dich töten lassen, denn so etwas sagt mir niemand. Rosner hat versagt, ich werde nicht versagen.«
Nach dem letzten Wort griff er unter seine Jacke und holte einen kurzläufigen, vernickelten Revolver hervor. Er zielte damit über den Tisch hinweg auf den Kopf der Frau und flüsterte: »Jetzt kannst du nur noch beten…«
***
Harry und ich hatten uns durch den dichten Verkehr der Hauptstadt gequält und waren in südöstliche Richtung gefahren, um zu Madame Tarocks zweitem Wohnsitz zu gelangen, eben diesem Hausboot.
Berlin ist eine gewaltige Stadt. Stadtteile und Häusermeere wechseln sich ab. Das ist nur die eine Seite. Es gab noch eine andere, eine grüne. Die Randseite und natürlich auch die Umgebung von Berlin, den berühmten Spreewald. Bis dorthin brauchten wir zwar nicht zu fahren, aber der Kanal lag schon ziemlich einsam. Da war von der Hektik der Großstadt nichts mehr zu spüren.
Das war unser Ziel.
Harry hatte sich die Strecke zuvor auf der Karte genau angesehen und den Weg auch behalten. Sein Gedächtnis war darin geschult, und so verfuhren wir uns auch kein einziges Mal.
Ich wunderte mich auch über die Umgebung, die sehr wasser- und waldreich war. »Hier kann man ja richtig Urlaub machen.«
»Und ob. Einige Menschen nehmen das auch in Anspruch. Um diese Zeit ist nicht viel los, aber im Sommer sind die Kanäle voll. Das ist für die Menschen noch immer etwas Besonderes, über die Kanäle zu schippern. Finde ich.«
Ich hielt mich zum erstenmal in Berlin auf. Zwar war ich schon sehr oft in Deutschland gewesen, das hier war mir jedoch neu, und es gefiel mir auch. Nur hatte ich leider keinen Urlaub und würde sehr bald einer. Person gegenüberstehen, auf die ich mehr als gespannt war.
Mir ging der Bericht meines deutschen Freundes nicht aus dem Kopf. Ich konnte mir bisher nicht vorstellen, dass es jemand schaffte, sein Gesicht und damit seinen Kopf auf den Rücken zu drehen.
Das war technisch einfach nicht möglich. In Filmen schon, verbunden mit Spezialeffekten, aber so…
Stahl sah mir an, dass ich gewisse Probleme hatte, und er lachte plötzlich. »Ich glaube, ich weiß, woran du denkst, John.«
»Ach ja?«
»An ihren Kopf.«
»Bingo.«
»Glaub mir, ich habe mich nicht geirrt. Ich war auch wie vor den Kopf geschlagen, aber ich musste es hinnehmen. Und ich hätte dich wirklich nicht aus deiner Wochenend-Ruhe gerissen, wenn Madame Tarock dies nicht getan hätte.«
»Warum nennt man sie so? Ist sie ein dermaßen großes Kartenwunder?«
»Das muss wohl so sein«, sagte er. »Genau weiß ich es auch nicht. Ich selbst habe sie noch nie besucht. Trotzdem - sie hat einen
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