1161 - Totentanz in M 82
nicht. So wenigstens sah es Seth-Apophis, und aus dieser Definition ergab sich für sie zugleich die Erklärung, warum sie weder der Moral noch des Schuldbegriffs bedurfte. Sie war allein. Es gab kein Gebot, nach dem sie sich zu richten hatte. Die Zwänge der Gesellschaft existierten nicht für sie.
Immer wieder aber war sie im Lauf der Jahrmillionen auf intelligente Wesen gestoßen, in deren Bewußtsein die Überzeugung verankert war, die Moral sei nicht eine Konstruktion der Zweckmäßigkeit, sondern ein inneres Wissen, das automatisch zusammen mit der Intelligenz erworben werde. Ja, manche unter diesen gingen sogar so weit, ein Geschöpf nur dann als intelligent anzuerkennen, wenn es gleichzeitig auch moralisch war.
Das gab ihr zu denken. War es möglich, daß ihr etwas „fehlte"? Hatte ihre Entwicklung jene Phase, in der ihr das Wissen um die moralischen Werte hätte zuteil werden sollen, übersprungen? Solche Überlegungen erfüllten sie mit Unbehagen; denn sie wollten sie veranlassen, bis an den Beginn ihres Werdegangs zurückzudenken. Wäre sie dem Anlaß gefolgt, dann hätte sie zu dem Schluß kommen müssen, daß in der Tat die Möglichkeit bestand, es seien bei ihrer Entstehung gewisse Dinge außer acht gelassen worden.
Aber soviel Spielraum ließ sie ihren Gedanken nicht. Das Tabu ihrer Herkunft blieb unberührt. Niemand, nicht einmal sie selbst, durfte sich damit befassen, daß Seth-Apophis, die Superintelligenz, aus einem primitiven Tier hervorgegangen war.
Aus einem Heel, der unter den Parsynnen als widerliches Ungeziefer gegolten hatte...
2.
Ich wußte nicht, wie sie das machten, aber es gab sicherlich eine völlig banale Erklärung dafür: Aus dem Nichts entstanden plötzlich zwei weitere neblige Flecke, einer groß, der andere kleiner, die sich in Sekundenschnelle verdichteten und die Form einfacher Fahrzeuge annahmen. Sie bestanden aus einer quadratischen Plattform, an der ringsum ein etwa hüfthohes Geländer entlanglief.
Harman trat auf das kleinere der beiden Fahrzeuge zu, öffnete ein Gatter und stieg auf die Plattform. Womit er sich festzuhalten gedachte, war mir unklar. Sein mächtiger Körper wies keine Extremitäten auf. Atoresk tat es ihm nach. Wir folgten ihm und traten auf die Plattform. Die Gatter wurden geschlossen. Sekunden später setzten sich die beiden eigenartigen Fahrzeuge geräuschlos in Bewegung.
„Ipotherape erwartet euch", hatte Harman gesagt. Also war anzunehmen, daß wir jetzt zu ihr gebracht wurden, zu Seth-Apophis, der Superintelligenz, die sich die Schöpferin der Ordnung nannte und doch in Wirklichkeit eine der massivsten Triebkräfte des Chaos war.
Ich hätte darüber erregt sein sollen, aber ich spürte weiter nichts als verdrossene Gleichgültigkeit.
Die beiden Plattformen bewegten sich irgendwo zwischen den niedrig hängenden Wolken und dem zumeist platten Land. Die Flughöhe ließ sich bei dem Ungewissen Licht nicht abschätzen. Es war. eine diesige, unwirkliche Welt, durch die wir flogen. Dünne, durchsichtige Fäden, von denen die Feuchtigkeit tropfte, zogen sich durch die Luft. Man sah nicht, woher sie kamen und wohin sie gingen. Sie wirkten wie das Gewebe einer schizophrenen Riesenspinne - ohne Sinn, ohne Ordnung. Unsere Fahrzeuge manövrierten zwischen den Fäden hindurch.
Ich erinnerte mich an vergangene Begegnungen mit Superintelligenzen: ES, Bardioc, die Kaiserin von Therm. Stets war etwas Geheimnisvolles und gleichzeitig Ehrfurchtgebietendes im Spiel gewesen, selbst im Fall des bedauernswerten Bardioc, der seine Bewußtseinssubstanz über einen ganzen Planeten ausgebreitet und Teile davon weithin durch das Universum gesandt hatte. Hier aber? Die überwältigende Trostlosigkeit dieser Welt, die quälende Erinnerung an zwölf unschuldige Boriden, die ihr Leben von meiner Hand eingebüßt hatten, das Wissen um die eigene Hilflosigkeit - all das vereinigte sich zu einer psychischen Bürde, deren niederdrückender Kraft das Bewußtsein nicht gewachsen war. Wäre mir in diesem Augenblick die Wahl geboten worden, an Bord der BASIS zurückzukehren und hinfort als biederer Bürger zu leben oder Seth-Apophis gegenüberzutreten, ihr Geheimnis zu entschleiern und weiterhin im Sinn der ordnenden Mächte tätig zu sein - ich hätte mich ohne Zögern für das erstere entschieden.
„Ich bin einigermaßen gespannt darauf, die Superintelligenz zu sehen."
Ich fuhr auf, als mir klar wurde, daß ich es war, zu dem Nachor sprach. „Ich versuche, sie mir
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