1164 - Die Wolfsfrau
Trutzburg. Es bewegte sich nichts in seiner Nähe. Niemand hatte es verlassen, niemand öffnete ein Fenster oder die Tür.
Wenn hier tatsächlich Beau Leroi lebte, hatte er sich ein gutes Versteck ausgesucht. Aber er lebte nicht allein. Eine ältere Frau machte ihm den Haushalt.
Für einen Vampir mehr als ungewöhnlich. Mir war auch nicht bekannt, wie viele Opfer er sich schon geholt hatte. Cindy war mir mehr durch Zufall in die Arme gelaufen. Es gab bestimmt auch andere, denn ich kannte den Blutdurst der Vampire.
Aber er ließ sie nicht frei. Er tötete sie auf grausame Art und Weise. Wenn er sich im Vergleich zu seiner Zeit in Frankreich nicht geändert hatte, konnte ich davon ausgehen, dass wir im Haus möglicherweise eine schreckliche Entdeckung machten. Täglich verschwanden - vor allem in Großstädten - viele Menschen, um die sich niemand kümmerte und die schnell vergessen waren.
Ein egoistischer Blutsauger, der nur an sich selbst dachte und an keine Weitergabe des bösen Keims.
Das hatte trotz aller Schrecken auch seine Vorteile.
Ich zeigte mich offen, als ich mich dem Haus näherte und die letzten Meter zurücklegte. Es hatte sich nichts verändert. Nur die Sonne schien auf das Dach, und genau sie war für einen Blutsauger das reinste Gift.
So konnte ich davon ausgehen, dass sich Beau Leroi zurückhielt und wir zunächst mal ins Leere griffen.
Die Hauswand wurde von keinen Pflanzen bedeckt. Es kam mir vor, als hätte man sie bewusst frei gehalten. Die Eingangstür war recht schmal. Sie sah trotzdem massiv aus. Zu meiner Überraschung entdeckte ich im Mauerwerk sogar eine Klingel.
Der schimmernde Knopf verschwand unter meiner Daumenkuppe, und das Geräusch hörte ich auch im Innern. Es war ein leichtes Scheppern. Das weckte bestimmt Tiefschläfer auf, aber keinen Vampir.
Ich war gespannt, ob man mir öffnete und mich einließ. Wenn nicht, würde ich einen anderen Weg finden.
Ein zweites Mal brauchte ich den Knopf nicht zu drücken. Zwar hörte ich keine Schritte hinter der Tür, aber sie wurde plötzlich aufgerissen. Mich traf ein kühler Schwall Luft, und dann stand plötzlich eine Frau vor mir.
Das musste diese Lena sein. Sie war schon älter. Ihr Gesicht war von unzähligen Falten durchfurcht.
Auf dem Kopf trug sie eine Strickmütze, die mich an eine Kappe erinnerte. Ihre Augen schimmerten wässrig. Man wusste nie, ob sie einen Menschen direkt anstarrte oder an ihm vorbei schaute.
Als Kleidungsstück hatte sie sich für einen Kittel entschieden. Der Stoff war mit einem Muster aus dunklen Farben bedeckt. Die Füße steckten in Turnschuhen.
Wir sprachen beide kein Wort. Als hätten wir uns abgestimmt, schauten wir uns gegenseitig an. Es war Belauern, ein Abwarten, und keiner wollte den Anfang machen. Ich war davon überzeugt, dass diese Frau wusste, in mir keinen Freund vor sich zu haben.
Ich war es, der die Lage durch ein Lächeln zu entspannen versuchte. »Guten Morgen.«
»Was wollen Sie?«
Die barsche Antwort machte mir klar, dass ich hier auf keinen Fall willkommen war.
»Ich möchte mit Ihnen reden. Entschuldigen Sie die frühe Stunde, aber es ging nicht anders.«
»Ich will aber nicht reden. Verschwinden Sie.«
»Das werde ich nicht tun!«
Diesmal bekam sie den Mund kaum geschlossen. Eine derartige Antwort hatte sie nicht erwartet.
»Wie… wie… können Sie es wagen, hier zu klingeln und noch Bedingungen zu stellen.«
»Es gibt Situationen, da muss man das tun.«
»Aber nicht hier!«
Ich wusste, was folgte, und hatte mich darauf eingestellt. Sie konnte nur die Tür zurammen, was sie natürlich auch tat. Aber mein Fuß stand in dem Spalt, und die Tür prallte dagegen.
Die Frau fluchte. Sie versuchte noch, mir Widerstand entgegenzusetzen, aber das war nicht zu schaffen. Zusammen mit der Tür drückte ich sie zurück.
Sie stolperte in den düsteren Eingangsbereich zurück. Der Sonne hatte man keine Chance gelassen.
Bereits auf den ersten Blick sah ich, dass innen graue Vorhänge an den Scheiben hingen. Das Haus hatte den Charme einer Leichenhalle, sowohl außen als auch von innen.
Die Frau hatte sich wieder gefangen und hörte auch meine Frage: »Sie sind Lena?«
»Ja.«
»Dann bin ich hier ja richtig.«
Sie schaute mich für einen Moment abschätzend an, bevor sie meckernd lachte. »Ein Einbrecher sind Sie nicht?«
»Dann wäre ich nicht um diese Zeit gekommen. Ich kann Ihnen sogar meinen Namen sagen. Ich heiße John Sinclair.«
Ihrer Reaktion entnahm ich, dass sie
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