117 - Der Zauberspiegel
verschwinden. Rasch beugte er sich vor und betrachtete sein Gesicht in der polierten Thekendecke. Sein Gesicht schien normal zu sein, doch die Veränderung seiner Hände entsetzte ihn. Ich schnappe langsam über, dachte er voller Grauen.
„Ich bin gleich wieder da", sagte Tony und ging betont lässig um die Bar herum und betrat die Toilette.
Er zog die Hände aus der Hosentasche und betrachtete sie genau. Sie waren noch größer geworden. Die Handrücken waren mit einem dichten Pelz bedeckt. Ein Blick in den Spiegel überzeugte ihn, daß sein Gesicht normal geblieben war. Was soll ich tun? fragte er sich. Soll ich meine veränderten Hände den anderen zeigen? Ich muß mit jemanden darüber sprechen, sonst verliere ich noch tatsächlich den Verstand.
Als er wieder seine Hände anblickte, sahen sie ganz normal aus. Verständnislos stierte er sie an, hob sie hoch und schüttelte den Kopf.
„Ich leide an Halluzinationen", murmelte er.
Ein lauter Schrei ließ ihn zusammenzucken. Er riß die Toilettentür auf und rannte in den Aufenthaltsraum.
„Wer hat geschrien?" fragte er.
„Wir nicht", antwortete Virgil und lief an ihm vorbei ins Stiegenhaus. „Der Schrei kam aus einem der Schlafzimmer."
Tony folgte ihm.
„Wer hat da geschrien?" brüllte Virgil und rannte die Stufen hoch.
Ein schwarzhaariges Mädchen kam ihnen entgegen.
„Hast du auch den Schrei gehört, Carol?" fragte Tony.
„Ja. Ich glaube, daß Donna geschrien hat."
Sie liefen zu Donnas Zimmer und öffneten die Tür.
Das Mädchen lag vor einem buntbemalten Kasten und bewegte sich nicht.
„Sie ist ohnmächtig", stellte Virgil fest und kniete neben der Rotblonden nieder.
Er wälzte sie auf den Rücken und fühlte ihren Puls.
„Sieh dir mal ihr Gesicht an, Tony!" flüsterte Carol und drängte sich an ihn.
Donnas Gesicht war normalerweise recht hübsch. Jetzt war es verzerrt und sah wie eine abstoßend häßliche Maske aus.
„Legen wir sie aufs Bett", meinte Virgil.
Tony und Virgil hoben die Bewußtlose hoch und legten sie auf das Bett. Die kleine Brust Donnas hob sich kaum merklich.
„Wir sollten einen Arzt holen", sagte Carol. „Sie sieht aus, als hätte sie etwas Entsetzliches gesehen. Ihr Gesicht schaut ja direkt furchterregend aus."
Donna bewegte sich leicht. Sie hob den rechten Arm und legte ihn über ihre Brust. Dann öffnete sich ihr Mund, und sie keuchte und warf den Kopf hin und her. Schließlich schlug sie die Augen auf und starrte die Decke an. Ihr Gesicht entspannte sich langsam.
„Hörst du mich, Donna?" fragte Virgil und beugte sich über sie.
„Ich höre dich", sagte Donna langsam, so als würde ihr das Sprechen Mühe bereiten.
„Weshalb hast du geschrien?"
Donna schloß die Augen, und ihre Wimpern zitterten leicht. Ihr Mund verzerrte sich wieder. Keuchend atmete sie aus.
„Ein Monster", flüsterte sie. „Ein Monster war im Zimmer. Es wollte mich anspringen."
Virgil blickte Tony an, der aber rasch den Blick abwandte.
„Du hast also ein Monster gesehen", stellte Virgil skeptisch fest und zupfte an seinem Ziegenbart herum. „Hm. Wie hat es ausgesehen?"
„Du glaubst mir nicht", sagte Donna und setzte sich auf. Mit beiden Händen strich sie sich über das Gesicht. „Ich habe mich aber nicht getäuscht. Ich habe gelesen, legte das Buch zur Seite und stand auf. Ich wollte mir etwas aus dem Schrank holen, ging hin und dabei warf ich einen Blick in den Spiegel. Da sah ich es."
„Das Monster?"
„Ja, das Monster." Donna blickte Virgil ernst an. „Ich sah das Monster im Spiegel. Es wollte mich anspringen. Ich duckte mich, doch es folgte mir. Ich schrie und dann wurde ich bewußtlos."
„Wie sah das Monster aus?" fragte Tony gepreßt.
„Ich sah es nur, einen Augenblick. Es war groß. Riesengroß. Der Körper war feuerrot, der Kopf sah aus, als würden aus ihm Flammen schlagen. Es war grauenhaft."
„Und du bist ganz sicher, daß du das Monster gesehen hast?" „Ganz sicher."
Virgil blickte sich forschend im Zimmer um. Sein Blick fiel auf ein aufgeschlagenes Taschenbuch. Grinsend griff er nach dem Buch.
„Der Schrei aus dem Totenreich", las Virgil den Titel des Buches vor und warf es Tony zu. „Eine Sammlung von Horror-Geschichten. Da haben wir die Erklärung."
„Unsinn!" sagte Donna schwach.
„Mir ist jetzt alles sonnenklar. Du hast diese schaurigen Geschichten gelesen und dich dabei gefürchtet. Danach hast du dir eingebildet, ein Monster gesehen zu haben."
„Ich habe schon mehr als hundert
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