1171 - Emilys Engelszauber
gedrückt. Sein Mund war nicht geschlossen. Wieder hatte er das Aussehen eines blinden Toten bekommen.
Aber er lebte. Er atmete schwach. Möglicherweise ging es ihm sogar besser als vor unserem Besuch.
Die Szene vorhin war nicht ohne Eindruck auf mich geblieben. Ich ging mit kleinen Schritten zurück und merkte, dass ich Mühe hatte, das Zittern in meinen Knien zu unterdrücken. Zwar waren die Worte verständlich gewesen, doch ihren Sinn hatte ich nicht begreifen können.
Eines war klar. Er stand nicht auf der anderen Seite. Amos hatte das Kreuz wie einen Retter begrüßt.
Dr. Gillian Foster geriet in mein Blickfeld. Sie schüttelte leicht den Kopf. »Was sollte das bedeuten?«
»Ich kann es Ihnen nicht genau sagen. Sie haben ihn doch selbst sprechen hören.«
»Das habe ich. Nur hat er sich noch nie so benommen. Das ist mir neu. Er ist ja aus sich herausgegangen. Es ist mir völlig fremd. Bitte, ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Vielleicht muss ich ihn jetzt mit anderen Augen sehen.«
»Das kann schon sein, Mrs. Foster.«
Die Ärztin schaute mich scharf an. »Sie tragen etwas bei sich. Unter Ihrem Hemd, nicht wahr? Darf ich fragen, was es ist?«
»Sie dürfen. Es ist ein Kreuz.«
Mit dieser Antwort hatte ich die Frau überrascht. Es dauerte, bis sie eine Antwort fand. »Sind Sie denn so gläubig?«
»Das sollte man manchmal sein.«
»Sie glauben an gute Geister?«
»Nicht so direkt. Ich glaube mehr an das Positive im Menschen. An die gute Seele.«
Dr. Foster überlegte und ruckte dabei an ihrer Brille. »Nun ja, das sei jedem selbst überlassen. Wenn Sie meinen Job hätten, würden Sie oft anders denken und sich fragen, warum das Gute…«, sie deutete gegen die Decke, »… so etwas zulässt.«
»Das Leben ist eben vielschichtig«, erwiderte ich.
Der Blick hinter den Brillengläsern verdüsterte sich. Aber sie gab mir keine Antwort mehr auf dieses Thema und sagte nur: »Dann bitte, nennen Sie mir den wahren Grund Ihres Besuchs. Mit Amos haben Sie wohl keinen Kontakt aufnehmen wollen.«
»Nein, aber mit einer anderen Person«, erklärte Glenda. »Es geht um Emily White.«
Die Ärztin sagte nichts, zumindest zunächst nicht. Dann lächelte sie gekünstelt. »Das Problem ist doch erledigt, denke ich.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Himmel, Sie sind von der Polizei. Sie wissen sicherlich, dass Emily unsere Klinik verlassen hat. Aber das war einmal. Sie ist längst wieder zurückgekehrt und in ihrem Zimmer.«
»Da sind Sie sicher?«
»Natürlich. Sie nicht?«
»Nicht unbedingt«, gab Glenda zu.
Jetzt musste die Ärztin lachen und schlug gleichzeitig in die Hände, als wollte sie Beifall klatschen. »Nichts gegen Sie, aber ich leite die Klinik und besitze auch den entsprechenden Überblick.«
»Das streiten wir nicht ab. Aber würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich Emily heute am Nachmittag schon gesehen habe?«
Die Ärztin nahm ihre Brille ab. Ihre Augen wirkten wesentlich kleiner.
Sie schnaufte einige Male, bevor sie sich räusperte. »Ich komme mir tatsächlich etwas außen vor dabei, um es mal positiv zu sagen. Ich kann Ihnen versprechen, dass sich Emily hier im Haus in ihrem Zimmer befindet.«
»Dann können wir sie ja sprechen«, sagte ich.
»Natürlich.«
»Ausgezeichnet. Wo finden wir sie?«
»Ich werde Sie begleiten«, erklärte Dr. Foster. »Wir müssen nach oben. Ihr Zimmer befindet sich in der zweiten Etage. Am besten wird es sein, wenn wir den Fahrstuhl nehmen.«
»Wie Sie meinen.«
Dr. Gillian Foster ging vor. Ich warf noch einen letzten Blick auf den Blinden. Amos benahm sich wie ein Mensch, der sehen kann. Er hob zum Abschied den rechten Arm und winkte uns zu. Er war doch nicht weggetreten und hatte alles mitbekommen. Obwohl er mich nicht sehen konnte, winkte ich zurück.
Die Ärztin sah es nicht. Sie und Glenda hatten bereits den alten Fahrstuhl erreicht. Die Gittertür war noch verschlossen. Kein Problem für Gillian Foster. Sie holte einen Schlüssel aus der Kitteltasche.
Wenige Sekunden später öffnete sie die Tür, um uns in den Käfig einzulassen. »Bitte sehr.«
Glenda betrat ihn als Erste. Ich wollte die Ärztin vorgehen lassen und forderte sie mit einer entsprechenden Geste dazu auf.
»Immer misstrauisch, Mr. Sinclair?«
»Ja, das bringt der Job so mit sich.«
»Kann ich verstehen.« Sie ging vor.
Ich zerrte die Gittertür zu. Man kam sich wirklich vor wie in einem Käfig. Hätte nur noch der Handbetrieb gefehlt, aber so
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