1171 - Emilys Engelszauber
Frauen zur Seite getreten waren.
Von Glenda wusste ich, wie Emily aussah. Sie hatte mir eine perfekte Beschreibung gegeben. Die konnte sie sich unmöglich ausgedacht haben. Sie musste Emily gesehen haben, denn die junge Frau sah so aus, wie ich sie aus den Beschreibungen kannte.
So zerbrechlich. So blass. Mit lockigen Haaren, großen Augen und einem kleinen Mund. Sie trug kein Kleid, sondern eine Jacke und eine Hose aus hellem Stoff. In ihrem Gesicht bewegte sich nichts, als wir die Zelle betraten. Sie blieb im Lotussitz auf einem würfelförmigen Hocker und schaute uns an.
Kein Lächeln, kein Wort der Begrüßung. Kein Bewegen der Augen.
Emily sah aus wie in einer tiefen Meditation versunken. Von ihrer Umwelt schien sie nichts wahrzunehmen.
Es war eine kahle Zelle. Wir sahen ein Bett, aber keinen Tisch und keinen weiteren Stuhl. Dafür lagen auf dem Boden verteilt einige Bücher. Die meisten waren aufgeschlagen. Praktisch wie nebenbei las ich ein paar Titel.
Es waren Märchenbücher und auch kleine Schriften, die sich mit den Geschichten um die Bibel herum beschäftigten, besonders mit den Erscheinungen der Engel.
Ich sah keinen Schrank, in den Emily ihre Sachen hätte hängen können. Das Fenster bestand aus sehr dickem Panzerglas. Es brauchte nicht mal ein Gitter.
»Hier lebt sie?«
»Wie Sie sehen.«
Glenda schüttelte den Kopf. »Aber es gibt keinen Tisch. Nur das Bett und den Hocker. Keine Toilette. Eine Lampe, die in der Decke steckt. Kein Bild und…«
Dr. Foster legte Glenda eine Hand auf die Schulter. »Glauben Sie mir, es ist schon recht so.«
»Wieso das?«
»Wir müssen vorsichtig sein, und wir handeln wirklich nur im Sinne unserer Patienten. Es gibt auch Zellen mit anderen Einrichtungen. Bei Emily konnten wir es nicht riskieren.«
»Dann haben Sie Emily als gefährlich eingestuft, nehme ich an?«
Dem wollte die Ärztin nicht zustimmen. »Nein, nicht direkt. Aber ungewöhnlich hat sie sich schon manchmal verhalten. Das muss ich schon zugestehen.«
»Was tat sie?« Glenda ließ nicht locker. »Hat sie geschrien? Hat sie getobt?«
»Auch.«
»Kann ich mir nicht vorstellen!«
Glendas leichte Provokation war gelungen, denn Dr. Foster gab die Antwort mit ärgerlicher Stimme. »Egal, was Sie nun glauben oder was nicht. Sie müssen mir schon zustimmen, denn ich kenne sie etwas länger als Sie. Miss Perkins, Sie sehen Emily White zum ersten Mal…«
»Nein, nein, Sie irren sich. Ich habe sie schon mal gesehen. Davon können Sie ausgehen.«
»Dann kann ich Ihnen nicht glauben, auch wenn Sie es immer wiederholen. Schauen Sie sich um, bitte. Was sehen Sie? Ausbruchsichere Wände und ein Fenster, das ebenso wenig überwunden werden kann wie die Tür. Emily ist einfach nicht in der Lage, das Zimmer hier zu verlassen. Sie müssen sich geirrt haben.«
»Aber sie war schon draußen.«
»Ja, ein Ausbruch. Aber wir werden dafür sorgen, dass dies nicht mehr geschieht.« Dr. Foster schaute nach diesem Satz mich an und erwartete eine Bestätigung, aber ich hielt mich zurück. Ich nickte und sprach nicht, denn für mich war die Person der Emily viel interessanter. Sie hätte überall hinschauen und auch jeden von uns anblicken können.
Genau das tat sie nicht. Emily hatte nur Augen für mich. Ich sah ihren Blick auf mich gerichtet. Es schien wirklich nichts anderes hier zu geben, als eben nur mich.
Warum war ich so interessant?
Auch wenn ich sie gefragt hätte, sie hätte mir bestimmt keine Antwort gegeben. Dabei fiel mir auf, dass sie nicht unbedingt mein Gesicht anschaute, ihr Ziel lag etwas tiefer. Es war mein Oberkörper, den sie nicht aus den Augen ließ. Genau dort, wo mich ihr Blick erwischte, hing das Kreuz vor der Brust. Natürlich nicht sichtbar, aber es war durchaus möglich, dass eine Person wie Emily es genau spürte. Schließlich hatten vier Erzengel dort ihr Zeichen hinterlassen.
Allgemein herrschte eine besondere Atmosphäre zwischen uns. Es war zwar still, trotzdem konnte man die Spannung fast körperlich spüren, die in dieser Stille lag. Es wurde nicht gesprochen, nur eben geschaut, besonders intensiv von Emily.
»Kann sie denn sprechen?«, fragte Glenda.
»Ja. Allerdings nur, wenn sie will. Oft zeigt sie sich verstockt. Das ist bei unseren Patienten nicht mal unnormal. Sie haben alle ihre bestimmten Phasen.«
»Verstehe«, sagte Glenda. »Darf ich es versuchen?«
»Bitte.«
Darauf hatte ich schon gewartet. Es hatte mich sowieso schon gewundert, dass Glenda noch keinen
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