1171 - Emilys Engelszauber
die Szene spanisch vorkam.
Sie schaute nur von der Seite her zu und ließ auch die Finger der jungen Frau nicht aus dem Blick.
Sie bewegten sich in die Höhe. Mein Hals war ihr Ziel, und als sie ihn erreicht hatte, da lagen sie bereits an den Rändern des obersten Hemdknopfes.
Sie öffnete ihn.
Danach den zweiten.
Der dritte folgte.
Ich bewegte mich nicht. Kein Wehren, kein Nachfragen, und Glenda verstand die Welt nicht mehr. »He, was ist das denn?«, rief sie leise.
»Will sie dich ausziehen?«
»Auf keinen Fall.«
Emily ließ sich nicht stören und machte weiter. Für sie war es unwahrscheinlich wichtig, dass sie den Gegenstand, den sie bisher nur gespürt hatte, endlich sehen konnte. Da war es ihr denn möglich, ihn zu berühren. Ihn zu streicheln und sich darauf einzustellen, mit ihm all das zu machen, was sie sich möglicherweise erträumt hatte.
Endlich lag das Kreuz frei!
Aus Emilys Mund löste sich ein leiser Schrei. Es war kein Laut des Schmerzes, auch wenn sie etwas zurückzuckte. Es war der Ruf der Überraschung, und in ihm schwang sogar Ehrfurcht mit.
Sie war zurückgetreten und hielt die rechte Fläche der Hand gegen ihren Mund gepresst. Die Hand bedeckte auch einen größeren Teil des Gesichts, sodass ich mich auf ihre Augen konzentrierte. Auch darin lag das Staunen, als sollte es nie mehr in ihrem gesamten Leben verschwinden. Langsam nur rutschte die Hand wieder nach unten, damit der Mund frei lag.
»Großer Gott!«, hauchte sie. »Es ist so schön. Es ist einfach so wunderbar…«
»Ja, es ist…«
Sie ließ mich nicht ausreden. »Woher hast du es?«
Ich winkte ab. »Ach, das ist eine lange Geschichte. Zu lang, um sie jetzt zu erzählen.«
»Das habe ich noch nie gesehen«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Wirklich noch nie.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich freue mich darüber. Ich liebe es. Ich spüre seine Kraft. Es ist wahnsinnig mächtig. Es ist die Kraft der Engel und die des Himmels, die in deinem Kreuz steckt. Ich… ich… muss es einfach lieben.«
Ich ließ meinen Blick nach unten gleiten, um herauszufinden, ob das Kreuz reagierte. Eine Erwärmung war nicht zu spüren, auch der Glanz und das Strahlen hielten sich zurück. Es hatte sich auch nicht gegen Emily gestellt. Ein Beweis, dass sie nicht auf der anderen Seite stand.
Doch so wie sie das Kreuz anschaute, war es für sie einfach die Erfüllung eines Traums.
»Darf ich es berühren, John?«
»Ja, bitte.«
Sie strahlte wieder und musste nur einen Schritt nach vorn gehen, um mich zu erreichen. Sehr langsam hob sie ihre Hände an und berührte damit das Kreuz. Sie liebkoste es mit den Fingerspitzen. Ich wartete vergebens auf eine Reaktion oder einen Wärmestoß, aber für Emily war es das Höchste überhaupt.
Sie nahm das Kreuz von meiner Brust weg und ließ es durch die nebeneinander gelegten Hände gleiten. Von ihrem Gesicht sah ich nicht viel, da sie den Kopf gesenkt hielt. Ich konnte mir leicht vorstellen, welch glücklichen Ausdruck es zeigte.
»Es ist das Schönste, was ich in meinem Leben gesehen habe, John. Ich darf es nicht nur berühren, ich spüre auch, welche Kraft in ihm steckt. Sie ist nicht von dieser Welt. Sie ist von meinen Freunden und Beschützern. Himmel, ich hätte nie gedacht, so etwas zu erleben. Es macht mich so happy…«
Sprach so ein Mensch, der in eine Heilanstalt gehörte? Für meinen Geschmack nicht. Emily mochte zwar etwas ungewöhnlich sein, aber sie verhielt sich schon wie jemand, der in das normale Leben gehörte und nicht hinter Gitter.
Eine Weile streichelte sie das Kreuz mit den Fingern. Dann schaute sie noch einmal zu mir hoch, als wollte sie prüfen, wie ich mich verhielt.
Als ich nichts sagen, flüsterte sie mir zu: »Ich möchte es küssen, John. Darf ich das?«
»Ja, wenn du willst…«
Ich war wirklich gespannt, was passierte, wenn sie es mit den Lippen berührte. So etwas hatte ich bisher noch nie erlebt. Ich kannte Menschen, die vom Anblick des Kreuzes fasziniert waren oder ein ehrfurchtsvolles Staunen zeigten, um einen Kuss jedoch hatte mich noch niemand gebeten. Da war Emily die Erste.
Sie hob das Kreuz an und senkte ihm gleichzeitig das Gesicht entgegen. Die Entfernung zwischen ihrem Gesicht und meinem Talisman schmolz sehr schnell zusammen, und dann strichen ihre Lippen über das obere Ende des Kreuzes hinweg. Sie berührten den Buchstaben M, der für den Erzengel Michael stand. Es war nur ein flüchtiger Kuss, nichts Festes, auch nichts Hartes, eher eine
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