1171 - Emilys Engelszauber
Liebkosung, die teilweise in Ehrfurcht erstarrte.
Es sprach niemand mehr von uns. Auch Glenda hielt sich mit einem Kommentar zurück und schaute weiter zu, wie sich Emily zur Seite hin bewegte.
Sie küsste den nächsten Buchstaben. Es war das G für Gabriel. Dann wechselte sie die Seite. Ohne das Kreuz zu berühren, bewegte sie ihren Mund auf das R zu. Raphael. Auch dort hauchte sie einen Kuss dagegen.
Diesmal schaute ich sehr genau hin.
Blitzte da etwas auf? Gab es einen Kontakt zwischen dem Mund der jungen Frau und dem Buchstaben?
Ich konnte mich geirrt haben, musste es aber nicht.
Emily holte wieder Luft. Einen Buchstaben hatte sie mit ihren Lippen noch nicht berührt. Es war das U am unteren Balken des Kreuzes. Es stand für Uriel den Flammenengel, und auch ihn vergaß sie nicht. Emily ging in die Knie, um dem Kreuz auch an dieser Stelle möglichst nahe zu sein. Mit einer Hand hielt sie es noch fest, dann küsste sie es. Diesmal stärker, wie ich glaubte.
Sie blieb nicht mehr lange in dieser Haltung und stand langsam wieder auf. Als sie sich vor mir zu voller Größe aufrichtete, interessierte mich am meisten ihr Gesicht, das einen völlig anderen Ausdruck zeigte.
Das Wort verklärt war noch untertrieben. Ätherisch vielleicht, dann eben dieses Verklärte, als hätte ihr jemand zu verstehen geben, wie gut die Zukunft in der nächsten Zeit aussah.
Emily atmete, aber sie stöhnte zugleich leise auf. Es war kein Stöhnen der Furcht. Für mich enthielt es eher einen wohligen Klang. Emily sprach weder mich noch Glenda an. Sie war versunken in sich selbst, und doch vergaß sie nicht, wie sie sich zu bewegen hatte. Das alles funktionierte gut. Mit kaum hörbaren Schritten ging sie wieder zurück, bis sie das Sitzkissen erreicht hatte. Sie nahm darauf Platz, hielt die Augen offen und schaute nach vorn. Ihr Blick galt nur meinem Kreuz.
Ich als Person interessierte sie gar nicht. Das Kreuz war wichtig, denn das hatte sie mit den Lippen berührt.
Innerhalb der Zelle herrschte eine andächtige Stille. Sie schien alles Böse vertrieben zu haben. Emily genoss diese Stille nicht nur, sie war sogar so etwas wie ein Mittelpunkt.
Sie saß auf dem Hocker, den Blick nach vorn gerichtet, aber trotzdem in den eigenen Gedanken oder Erinnerungen versunken. Durch die Küsse musste etwas mit ihr passiert sein, das ihr äußerlich nicht anzumerken war.
Endlich bewegte sich auch Glenda. Einen Schritt kam sie näher, bevor sie mich ansprach.
»Du hast alles gesehen, ich ebenfalls. Kannst du mir eine Erklärung abgeben?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine genaue«, erwiderte ich ebenso leise. »Es ist möglich, dass sie Kraft gesammelt hat.«
»Ach - durch dein Kreuz?«
»Wodurch sonst?«
»Und wofür Kraft gesammelt?«
»Kannst du dir das nicht denken?«
Sie lachte leise. »Ja, irgendwie schon. Aber es ist für mich zu fantastisch, um es auszusprechen. Kann es sein, dass sie sich verändern will? Dass sie so werden will wie ein Engel?«
»Genau das wird es sein.«
Ich sah Glenda an, dass sie das Wort »unmöglich« aussprechen wollte, aber sie dachte wohl daran, was sie selbst erlebt hatte, und nickte mir dann zu. »Ja, man kann nichts ausschließen, John. Es ist verrückt und unbegreifbar, aber man muss es akzeptieren. Der Mensch Emily versucht, sich in die Region der Engel vorzuarbeiten. Und einen großen Teil hat sie schon geschafft. Das habe ich selbst gesehen, als plötzlich das Licht erschien. Sie hat schon jetzt mächtige Beschützer. Nur frage ich mich, wer sie in die Klinik hier geschafft hat und wie das möglich gewesen ist.«
»Wir hätten uns bei Dr. Foster erkundigen sollen.«
»Das hole ich nach.«
Unser Gespräch wurde durch Emilys Bewegung unterbrochen. Sie stand nicht auf, auch wenn es im ersten Moment so aussah. Sie hob nur die Beine an, um die Haltung zu verändern. Sie nahm wieder den Lotussitz ein und legte die Handflächen dabei auf die Oberschenkel.
Keiner von uns ließ Emily aus den Augen. Auch wenn sie nichts sagte, war ihr die Veränderung nach dem Küssen des Kreuzes schon anzusehen. Die Augen wirkten größer. Es lag wahrscheinlich an der inneren Kraft, die sich auch nach außen hin zeigte.
Die Lippen lagen aufeinander, aber sie lächelten. Ich wusste nicht, wem das Lächeln galt, uns bestimmt nicht. Sicherlich dachte sie an etwas für sie Schönes.
»Emily bleibt nicht so, John, das habe ich im Gefühl. Da passiert noch was.«
Der Meinung war ich auch. Nur wollte ich sie nicht
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