1171 - Emilys Engelszauber
Das allerdings erst auf dem Flur, da hatte sie sich schon überfahren lassen.
Gillian Foster war sauer. Sie starrte die Tür an, als wäre sie ein böses Orakel. Um ihre Lippen herum zuckte es. Sie überlegte auch, ob sie die Tür nicht einfach wieder öffnen und in die Zelle hineingehen sollte. Von dem Gedanken allerdings kam sie ab. Das ließ ihr Stolz einfach nicht zu.
Aber sie würde den beiden Besuchern schon was erzählen, das stand für sie fest.
Nach unten ging sie nicht. Dafür verhielt sie sich wie eine Fremde im eigenen Haus. Sie ging bis auf die Tür zu und neigte ihr Ohr dagegen.
Es konnte ja sein, dass sie etwas hörte, doch das Material war nicht nur ausbruchsicher, es schluckte auch alle normal lauten Geräusche. Da hätte innen schon jemand schreien müssen, um vor der Tür gehört zu werden.
Die Blöße einer Wartenden wollte sich die Ärztin nicht geben.
Deshalb machte sie sich auf den Weg zur Treppe. Sie kam dabei an mehreren Türen vorbei, und sie wusste auch, dass längst nicht alle Zellen oder Zimmer belegt waren.
Im Klartext hieß dies: Der Klinik ging es schlecht. Sie ließ sich finanziell kaum tragen. Wenn in den folgenden Monaten nicht etwas passierte, musste sie aufgegeben werden.
Zu allem kam noch das Problem mit Emily White hinzu. Genau daran hatte Dr. Foster zu knabbern. Sie selbst war nicht für die Einlieferung der Patientin verantwortlich gewesen. Das hatte der Klinikchef veranlasst, der Professor. Über Emilys Herkunft wusste Dr. Foster nicht viel, sie hatte nur etwas von einem Zirkus gehört. Die Leute dort hatten Emily nicht haben wollen, weil sie eben anders war. Deshalb wurde sie in die Klinik gesteckt.
Vor einer Tür nahe der Treppe blieb Gillian Foster stehen. Sie schaute durch das Guckloch. Im Bett lag ein älterer Mann. Wie immer hielt er das Bild seiner verstorbenen Frau umklammert. Er war davon überzeugt, dass sie irgendwann zurückkehren würde. Der Kranke erkannte sonst keinen Menschen mehr, aber seine Frau war bei ihm haften geblieben. Der Mund stand nur in den kurzen Schlafphasen still. Nicht in diesen Augenblicken. Er sprach laufend den Namen Elizabeth aus.
Für die Ärztin war nur zu sehen, dass sich seine Lippen bewegten, hören konnte sie nichts.
Achselzuckend wandte sie sich ab und ging die wenigen Schritte bis zur Treppe. Auch hier waren die Stufen nicht eben perfekt beleuchtet.
Es brannten einfach zu wenige Lampen.
Gillian lief leichtfüßig die Treppe hinunter. Sie würde nicht verschwinden und unten warten, wo sich auch Amos, der Wächter, aufhielt, um die bösen Geister zu vertreiben. Er war einer der großen Geldbringer in der Klinik. Seine Familie war vermögend und zahlte jeden Monat eine horrende Summe für den Verwandten.
Sein Lieblingsplatz war der Rollstuhl. Er brauchte ihn nicht unbedingt, doch das normale Gehen fiel ihm schwer. Da fühlte er sich in seinem Rollstuhl wohler.
Er hatte die Ärztin gehört, und sie hatte ihn gehört. Amos sprach öfter mit sich selbst. Das tat er auch jetzt wieder, aber es war nicht zu verstehen, was er sagte.
Er saß auch nicht mehr so ruhig vor dem Fenster. Er war dabei, den Rollstuhl hin und her zu schieben. Der Oberkörper bewegte sich vor und zurück. Die dünnen Haare sahen zerzaust aus, als hätte er sie einige Male mit den Fingern durchwühlt.
Amos sah die Chefin erst, als sie die Treppe verlassen hatte und durch den Eingangsbereich schritt. Sie durchquerte die helleren und auch dunkleren Stellen, war mal besser zu sehen und dann wieder weniger gut. Sie sagte auch nichts, aber Amos wurde nervös, je näher Dr. Foster auf ihn zukam.
»Was hast du?«, fragte sie.
Der Alte öffnete den Mund. Er lachte. Dann fuhr er mit der Hand über seine Lippen.
»He, was ist, Amos?«
»Ha… ha…«
»Hast du böse Geister gesehen?« Gillian wusste, wie man ihn auf das Thema bringen konnte.
»Nein, nein, keine Geister. Ehrlich nicht. Ich lüge nicht. Aber ich habe etwas gesehen.«
»Was?«
»Einen Engel!«
Gillian Foster glaubte, sich verhört zu haben. »Bitte, was hast du gesehen?«
»Einen Engel!«
Sie schüttelte den Kopf, obwohl Amos es nicht sehen konnte. »Du hast dich geirrt. Es gibt keine Engel. Das ist Quatsch. Kümmere dich um deine Geister.«
Amos behielt seinen Starrsinn bei. Er hob beide Arme und schlug auf seine Schenkel. »Ich weiß, was ich gesehen habe. Das ist alles großer Unsinn, was du sagst. Ich habe ihn gesehen, und ich weiß auch, dass er in der Nähe ist.«
Leise lachend
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