1171 - Emilys Engelszauber
stören. Wenn es tatsächlich stimmte, dass in ihr die Kraft eines oder mehrerer Engel steckte, dann musste sie es auch beweisen, und wir brauchten tatsächlich nicht lange zu warten.
Es gab kein Vorzeichen. Wir erlebten nichts, aber der Körper setzte sich plötzlich in Bewegung. Wie er das tat, das brachte uns zum Staunen, denn er glitt langsam und völlig starr in die Höhe.
Emily schwebte!
Sie hatte es geschafft, der Fliehkraft zu entkommen. Sie beherrschte die Gabe der Teleportation. Sie konnte sich selbst bewegen, und wir standen nur da und staunten.
Noch immer in ihrer Lotoshaltung schwebte sie der Decke entgegen.
Das Gesicht zeigte ein verklärtes Lächeln. Die Haut wirkte wieder so weich und zugleich fragil, und es gab kein Hindernis, das sie auf ihrem Weg nach oben gestoppt hätte.
»Willst du sie halten, John?«
»Nein.«
»Aber…«
»Lass sie, Glenda. Denk daran, was du auf dem Parkplatz mit ihr erlebt hast.«
»Da hat sie getötet.«
»Sind wir ihre Feinde?«
»Nein, das nicht…«
»Eben.«
Mein Hemd stand noch immer offen. Ich schaute mir das Kreuz an.
Keine Veränderung, keine Wärme und auch kein Strahl, der von ihm zu Emily geglitten wäre.
Es war ungewöhnlich, aber wir erlebten die reine Wahrheit. Ich war nur gespannt darauf, was passieren würde, wenn Emily White die Decke erreichte.
So weit ließ sie es nicht kommen. Noch bevor sie den Kopf einziehen musste, änderte sie ihre Richtung.
Jetzt schwebte sie nicht nur mehr in die Höhe, sondern zugleich nach hinten.
Genau dort befand sich das Fenster!
»Das darf nicht wahr sein!«, flüsterte Glenda. »Das ist der Weg. Ich… ich werde noch…«
»Wir sehen uns…«
Eine weiche Stimme, die den Abschiedsgruß sprach. Ein letztes Lächeln, dann drückte sie den Körper gegen die Scheibe, und er musste sich dabei einfach in eine feinstoffliche Masse verwandeln, sonst hätte er es nicht geschafft, durch das geschlossene Fenster mit dem Panzerglas zu dringen.
Es war kein Hindernis für Emily. Es machte ihr nichts aus. Wir sahen an verschiedenen Stellen das kurze Flimmern, als die beiden unterschiedlichen Zustände sich berührten, und einen Augenblick später waren Glenda und ich allein.
Wir sahen uns an.
»Hat sie es geschafft?«, fragte Glenda leise. »Ist sie ein Engel?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube es auch nicht. Aber sie ist nicht mehr weit von einem Engel entfernt.«
»Und wo ist sie jetzt?«
Auf diese Frage wusste ich keine Antwort. Ich hätte sagen können überall und nirgends, aber ich war davon überzeugt, dass Emily auch einen Plan verfolgte.
»Wir kennen sie zu wenig, John. Du noch weniger als ich.« Dann fragte Glenda: »Sind Engel eigentlich immer nur gut? Oder können sie auch negativ sein?«
»Beides, das weißt du selbst.«
»Dann frage ich mich jetzt, in welche Richtung Emily tendiert?«
»Hoffentlich nicht in die negative. Vergiss nicht, wie sehr sie mein Kreuz geküsst hat.«
Glenda nickte. »Ja, ich habe es gesehen, und ich habe es auch nicht vergessen.« Sie atmete tief durch. »Komm, lass uns gehen. Hier in den Mauern fühle ich mich mehr als unwohl.«
Mir erging es nicht anders. So schön konnte keine Zelle sein, als dass ich sie länger als nötig betrat, auch wenn die Wände wie hier hell gestrichen waren.
Glenda war schon an der Tür und öffnete sie. Sie spähte hinaus auf den Flur und drehte ihren Kopf wenig später mir zu. »Es ist niemand zu sehen, auch die Foster nicht.«
»Dabei war sie sich ihrer Sache so sicher.«
»Mal sehen, was sie sagt.«
Ich schob Glenda vor und blieb ebenfalls im Flur stehen. Wir hörten nichts, es waren auch keine Mitarbeiter zu sehen. Die Klinik wirkte wie ausgestorben. Das war nicht normal. Wenn sich die Zeit ergab, würde ich der Ärztin entsprechende Fragen stellen.
Diesmal verzichteten wir auf den klappernden Fahrstuhl. Da war die Treppe schon besser. Wir wussten, wo sie begann und gingen auch auf sie zu, aber wir erreichten wie nicht und blieben stehen, weil wir von unten her Geräusche hörten.
So laut, dass sie bis zu uns hoch klangen. Es war Amos, der immer wieder die gleichen Sätze schrie:
»Ein Engel kommt! Ein Engel kommt…!«
***
Dr. Gillian Foster fühlte sich wie eine Person, der etwas weggenommen worden war. Zudem hatte sie sich kurzerhand überfahren lassen. Sie war schließlich die Chefin, und die schickte man nicht so einfach weg. Dass es trotzdem passiert war, brachte ihr einen dicken Hals und einen vor Ärger roten Kopf ein.
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