1171 - Emilys Engelszauber
ging die Frau näher. »Dann sag mir doch mal, wie er ausgesehen hat. Besaß er Flügel? Schwebte er durch die Luft? Oder glitt er hier vorbei?«
»Er ist schon da!«
»Wo denn? Ich sehe ihn nicht!«
Amos schnappte nach Luft. »Du hast Augen und kannst nicht sehen. Ich besitze keine Augen und kann trotzdem sehen. Und ich sehe die Wahrheit. Sie ist so wunderbar. Sie ist ein Engel, der wie ein Mensch aussieht. Sie besitzt keine Flügel, aber sie ist so schön. Das blonde Haar, das weiche Gesicht, die gütigen Augen…«
»Ja, ja, schon gut. Wenn du den Engel so genau kennst, dann kannst du mir sicherlich auch seinen Namen sagen - oder?«
Amos senkte den Kopf. »Es ist ein Mädchen«, erklärte er in einem Singsang. »Fast noch ein Kind, nur knapp erwachsen. Aber in ihm steckt die Schönheit des Himmels.«
»Ich möchte von dir gern den Namen wissen.«
»Emily…«
In den nächsten Sekunden reagierte die Ärztin nicht. Sie stand vor Amos, schüttelte den Kopf, bevor sie zu lachen begann. Aber nicht so laut, dass es den Mann erschreckt hätte.
»Warum lachst du?«
»Weil diese Emily, von der du gesprochen hast, kein Engel ist. Verstanden?« Gillian Foster hatte zwar dagegen gesprochen, doch sehr überzeugend hatte die Stimme nicht geklungen. Irgendwie war sie durch die Worte des Blinden nervös geworden. Das passierte ausgerechnet ihr, wo sie doch immer die Ruhe behielt.
»Glaube mir. Er kommt. Bleib nur bei mir, dann wirst du ihn sehen.«
»War er denn schon hier?«
»Nein, noch nicht.«
»Und du hast ihn trotzdem gesehen?«
»Auch gespürt.« Amos wurde wieder unruhig. Nicht allein auf seinem Gesicht zeichnete sich das Gefühl ab, er fing auch an, sich zu bewegen.
Er ruckte wieder nach vorn, dann zurück, er drehte sich und trat mit dem Fuß gegen die Bremse des Rollstuhls, sodass er einen festen Stand hatte.
Die Ärztin ahnte, was folgte. Sie wollte auch eingreifen, aber sie war zu langsam. Mit einer einzigen Bewegung hatte sich der sonst immer so steif wirkende Blinde in die Höhe geschoben. Plötzlich stand er wie eine starre Figur vor seinem Stuhl. Sein rechter Arm schwang hoch, die Hand war gestreckt. In den dunklen Augenhöhlen bewegte sich nichts.
Auf Gillian wirkte er wie ein Toter, den jemand aus dem Sarg geholt hatte.
Er wies ohne Unterlass in eine bestimmte Richtung, und aus seinem Mund drang der immer gleiche Satz.
»Der Engel kommt! Der Engel kommt!«
Nachdem Gillian den Satz ein paar Mal gehört hatte, ihm aber trotzdem nicht so recht glaubte, drehte sie sich entgegen ihrem eigenen Willen um.
Der Blinde konnte nur auf seine Weise sehen. Sie aber sah wie jeder gesunde Mensch.
Er hatte ihr genau den richtigen Weg gewiesen. Seine Hand führte mit der Spitze dorthin, wo die Treppe von oben nach unten in den Eingangsbereich hineinlief. Dort stand tatsächlich jemand. Es war eine Frau, die Amos als Engel angesehen hatte, aber das wollte die Ärztin nicht glauben, denn sie sah keinen Engel vor sich, sondern eine normale Person, eine junge Frau, zugleich Insassin der Klinik - Emily White eben…
Gillian Foster war nicht einmal sehr überrascht. Sie wollte auch nicht behaupten, dass sie damit gerechnet hatte, obwohl eine gewisse Unsicherheit noch in ihr steckte.
Zugleich spürte sie eine rasende Wut auf Glenda Perkins und John Sinclair in sich hochsteigen. Ein Gefühl, das wie eine Flamme war und bis in ihren Kopf hineinbrannte, sodass ihr Gesicht einen roten Schimmer bekam.
Es gab für sie keine andere Möglichkeit. Die beiden mussten mit Emily unter einer Decke stecken. Denn nur sie konnten die Frau aus der Zelle gelassen haben, deren Tür von Gillian nicht abgeschlossen worden war.
Auf Amos achtete sie nicht länger, sie sprach zu sich selbst. »Das… das gibt es nicht. Das ist eine Sauerei in höchster Potenz. Ich werde die beiden…« Die Worte erstickten, weil sie so wütend war. Sie musste husten. Dabei schüttelte sich ihr Körper. Der Anfall dauerte nicht lange.
Als er vorbei war und sie wieder den Kopf anhob, da sah sie, was passiert war.
Emily White hatte bereits die Treppe verlassen. Sie befand sich im Bereich des Eingangs, aber - und jetzt sah sie etwas, was sie nicht fassen konnte - sie ging nicht direkt über den Steinboden hinweg, sondern schwebte.
Ihre Füße berührten den Boden nicht. Oder war das eine Täuschung?
Die Ärztin rieb über ihre Augen hinweg. Das Spiel aus Licht und Schatten konnte schon für derartige optische Irrtümer sorgen. In diesem Fall traf es
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