1178 - Lisas Totenruf
etwas aus, das auch mir nicht verborgen blieb. Es war Respekt. Genau dies umgab sie als eine unsichtbare Aura, und das hatte ich sehr wohl bemerkt.
Sofia schloss die Augen nicht ganz. Unter den Lidern hervor konnte sie mich noch beobachten. Sie saß im weichen Licht, und neben ihrem Stuhl standen die beiden Aufpasser wie schwarze Ölgötzen.
»Sie wissen, Mr. Sinclair, welchem Volk ich angehöre?«
»Das ist mir bekannt.«
»Sagen Sie ruhig noch Zigeuner zu uns. Man kann den Ausdruck so und auch anders sehen. Denken Sie nur an die vielen Komponisten, die von unserer Musik begeistert waren und es auch jetzt noch sind, denn immer wieder flossen und fließen Elemente unserer Musik in die Kompositionen der anderen mit ein. Trotz allem konnte nicht verhindert werden, dass man uns verfolgte. Wir waren immer Ausgestoßene, die am Rande der Gesellschaft lebten, obwohl auch wir zum indogermanischen Volksstamm gehören. Als Minderheit haben wir es gelernt, uns eine eigene Welt zu bauen. Wir leben in der Moderne aber auch in der Tradition. Was bei anderen Menschen verschüttet ging, ist bei uns wachgehalten worden. Wir haben die Vergangenheit nicht vergessen. Wir kennen sie, wir haben sie erforscht, und wir leben auch noch mit ihr. Sie ist für uns ein Kelch voller Wunder, die wir ehrfürchtig betrachten. Und wir besitzen das, was vielen anderen Menschen auch in der heutigen Zeit verloren gegangen ist - Familiensinn.«
»Das glaube ich Ihnen.«
»Danke, Mr. Sinclair. Wobei ich auch beim Thema bin. Es ist nicht üblich, dass sich fremde Menschen in unsere Angelegenheiten mischen. Das erledigen wir selbst. Aber auch uns sind Grenzen gesetzt, und eine solche Grenze habe ich erreicht.«
»Was soll ich tun?«
»Warten Sie ab. Zu unserer Familie gehören alle. Egal, ob sie miteinander verwandt sind oder nicht. Ich sehe mich als die Mutter zahlreicher Söhne und Töchter an. Ich habe versucht, ihnen allen gerecht zu werden, doch auch ich bin nur ein Mensch. Ich… ich… konnte es nicht schaffen. Es gibt Menschen, denen ich mehr zugetan bin als anderen. Und zu diesen gehört Lisa.«
Nach diesem Satz öffnete sie die Augen weit und schaute mich wieder direkt an.
»Verstehe«, sagte ich leise. »Mit dieser Lisa ist etwas passiert, und Sie wollen, dass ich Ihnen helfe.«
»Ja, so kann man es im Groben sagen.«
»Das reicht natürlich nicht als Auskunft.«
»Ich weiß.« Sie legte den Kopf zurück und holte durch die Nasenlöcher Luft.
Bei einer leichten Bewegung klingelten die Reifen an den Gelenken aneinander, und sie sah aus wie jemand, der stark über etwas nachdachte. »Lisa ist kein Kind mehr. Sie ist eine junge Frau mit blonden Haaren, und sie ist sehr hübsch. Ich habe sie lange Zeit unter meiner Obhut gehabt, was auch nötig war, denn Lisa war anders als die meisten Menschen. Sie war sehr sensibel. Sie war der Natur und manch unbegreiflichen Vorgängen sehr zugetan. Sie war eine Einzelgängerin, und sie hatte ein Hobby, das uns alle etwas erschreckte. Lisa liebt Friedhöfe!«
Sofia wollte eine Antwort von mir haben, deshalb hatte sie auch eine Pause eingelegt.
Ich hob die Schultern. »Friedhöfe?«
»Ja.«
»Soll ich jetzt sagen, dass dies nicht unbedingt so ausgefallen ist? Es gibt Menschen, die sich auf Friedhöfen sehr wohl fühlen. Das sind die Schwarzen oder die Grufties und…«
»Nein, nein. Sie haben noch nichts begriffen, John. Ich weiß genau, was Sie damit andeuten wollen. Aber Lisa gehört nicht zu dieser Gruppe, glauben Sie mir.«
»Dennoch mag sie die Friedhöfe?«
»Ja.«
»Ich kann es Ihnen nicht genau sagen, Mr. Sinclair. Natürlich habe ich Lisa danach gefragt und erhielt auch Antworten. Sie mochte einfach die Ruhe, und sie hat sich - zwischen all den Gräbern und den darin liegenden Toten sehr gut gefühlt. Das können Sie sehen, wie Sie wollen. Manche Menschen haben einen besonderen Draht zum Tod. Daran gibt es nichts zu rütteln und…«
»Bitte, Sofia, kommen Sie zur Sache. Wenn ich Ihre Aussagen höre, dann habe ich das Gefühl, als hätten Sie starke Angst um diese junge Frau. Ist das nicht so?«
»Kann ich bestätigen.«
»Aber Sie ist nicht tot - oder?«
»Nein, das hoffe ich nicht.« Sofia hatte sich nach meiner Frage erschreckt. »Aber ich weiß auch nicht, wo sie sich befindet. Sie war plötzlich weg, einfach verschwunden. Wir konnten sie nicht halten. Sie ist ohne einen Abschied von uns gegangen. Keiner kann das verstehen. Wir vermissen sie sehr und haben alle Hebel in
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