1187 - Wächterin am Höllentor
nicht änderte. Die anderen Nonnen hielten sich zurück. Es war ihre Stunde. Der Tag ging, die Nacht kam. Eine Zeit, die zwischen Tag und Traum lag.
»Es ist unmöglich«, sagte Clarissa von ihrem Platz aus. »Das alte Leichenhaus ist geschlossen.«
»Leider nicht.«
»Doch, ich…«
»Aber wir haben uns nicht getäuscht«, erklärte Jane. »Das müssen Sie uns glauben.«
Die Nonne überlegte. »Meinen Sie tatsächlich, dass es die Oberin gewesen ist, die so geschrieen hat? Kann es nicht auch ein Tier gewesen sein, das sich in das Leichenhaus eingeschlichen hat? Da kann man sich leicht täuschen.«
»Glauben Sie mir, es war ein Mensch. Es war sogar eine Frau. Das haben wir deutlich hervorgehört. Wir hätten Ihnen gern eine andere Nachricht gebracht. Leider ist es nicht möglich…«
»Wie können Sie behaupten, dass es die Oberin gewesen ist?«, flüsterte Clarissa. »Ich meine, Sie… Sie haben doch keinen Beweis. Oder etwa doch?«
»Den haben wir nicht«, sagte ich. »Aber die Umstände deuten darauf hin, da werden Sie mir sicher Recht geben.«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte die Nonne. »Es ist alles so anders geworden. Als hätte jemand alles zerstört. Man sollte unten im Ort nachfragen, ob die Oberin dort gesehen worden ist. Es passiert schon mal, dass sie nach Tresinwen geht. Es wäre nichts Außergewöhnliches.«
»Auch mitten in der Nacht? Ohne einer ihrer Mitschwestern etwas von ihrem Ausflug zu sagen?«, fragte ich.
»Das ist in der Tat ungewöhnlich.«
»Und kam noch nie vor, denke ich mir.«
»Ja, richtig.«
»Dann gibt es nichts, was unseren Verdacht entkräften könnte?«
Clarissa ließ sich Zeit mit der Antwort. Ihr Blick hatte noch immer keine Ruhe gefunden. »Doch«, sagte sie dann. »Es gibt etwas, Mr. Sinclair. Niemand ist in der Lage, die Tür zu öffnen. Man hat sie verriegelt. Ich weiß nicht, aus welchem Grund. Aber das alte Leichenhaus ist und bleibt geschlossen. Es werden dort keine Totenfeiern mehr abgehalten. Die Zeiten sind vorbei. Und ich weiß auch nicht, warum man das damals immer getan hat. Da bin ich überfragt.«
Jane sprach wieder. »Haben Sie noch nie von einem zweiten Eingang gehört?«
»Nein, nie!« Die Antwort hatte überzeugend geklungen. »Wie auch, denke ich. Das Leichenhaus ist in den Hügel hineingebaut worden. Es ist gewissermaßen eine Höhle, und es gibt von der anderen Seite her tatsächlich keinen Zugang. Man kommt nur von vorn in das Haus hinein.«
»Schade.«
»Warum, Mr. Sinclair?«
»Dann gibt es keine natürliche Erklärung. Wir müssen uns etwas anderes vorstellen.«
»Was denn?«
Ich winkte ab. »Nein, lassen wir das. Es wird bestimmt nicht in Ihr Weltbild passen, Schwester.«
Sie hob einen Arm. »Sagen Sie das nicht, Mr. Sinclair. Allmählich denke ich, dass Sie den alten Geschichten, die hier vorgefallen sind, sehr viel Glauben schenken.«
»Daran dachte ich tatsächlich.«
»Und damit an Vestina.«
»Sie haben es gesagt!«
»Eine Tote…« Sie wollte noch etwas sagen, doch mein Blick irritierte sie. »Oder nicht?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Normalerweise müsste sie tot sein«, erklärte ich. »Aber da kann es auch andere Möglichkeiten geben.«
»Dass sie überlebt hat?«
»So ist es!«
Clarissa setzte sich hin. Sie strich über ihr Gesicht. »Nein, unmöglich. Das… das… glaube ich einfach nicht. Ich bin im christlichen Glauben erzogen worden. Ich weiß, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern ein neuer Beginn. Aber dieser Beginn stellt sich nicht so dar, wie Sie ihn sehen.«
»Meinen Sie?«
»Ja!«
»Wir haben uns auch belehren lassen«, sagte Jane. »Es gibt eine Macht, die daran etwas dreht. Es fällt auch uns schwer, dies zu glauben, aber denken Sie daran, dass uns die Oberin nicht grundlos hat herkommen lassen. Sie wusste oder ahnte zumindest, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zuging.«
»Was kann sie denn gesehen haben?«
»Keine Ahnung. Aber es muss mit dieser Umbettung zusammenhängen.«
»Das waren nur Gebeine, Miss Collins.«
»Ja.«
»Tote Materie.«
Jane wiegte den Kopf. »Ein Mensch besteht nicht nur aus Materie, sondern auch aus der Seele. Manchmal können Seelen die unmöglichsten Wege gehen, da haben wir schon unsere Erfahrungen sammeln können. Jedenfalls rechnen wir damit, dass die alte Geschichte der Selbstmord-Nonnen nicht vorbei ist und auf eine unheimliche und grausame Art und Weise fortgeführt wird.«
Clarissa schwieg. Sie schaute zu einem der Fenster hin.
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