1187 - Wächterin am Höllentor
Hände hatte sie auf ihren Rücken gelegt.
Die Luft atmete sie scharf durch den Mund.
Vieles schoss ihr durch den Kopf, und die Hälfte dieser wirren Gedanken machte ihr Angst. Die Gräber hätten vielleicht gar nicht geöffnet werden sollen. Sie waren ja nicht grundlos außerhalb des Klosters angelegt worden, aber es gab Menschen, die dort unbedingt eine Straße bauen wollten, weil nicht weit entfernt ein Campingplatz angelegt werden sollte. Da hatte der alte Friedhof eben weichen müssen.
Sieben Gräber, sieben Särge. Aber nur sechs davon waren belegt. Einer war leer.
Und das nicht grundlos!
Die Oberin kannte den Grund. Zumindest glaubte sie ihn zu kennen. Er war mit einem Namen verbunden, den kaum jemand auszusprechen wagte.
Schwester Vestina.
Sie hatte hier gelebt, aber jetzt lebte sie nicht mehr. Oder lebte sie doch?
Der Oberin kamen Zweifel. Sie fühlte sich plötzlich eingeengt. Sie war die Chefin hier, aber nun wünschte sie sich, es nicht zu sein. Ihr war klar, dass sich ihr Leben hier ändern würde. Und nicht nur das ihre, sondern auch das der anderen Schwestern. Die Vergangenheit hatte sie eingeholt, und das war nicht gut.
Es musste etwas getan werden, bevor sich die Dinge zuspitzten und es womöglich Opfer gab. Vestina hat nicht im Sarg gelegen. Er war leer. Sie hat es geschafft, wie auch immer, dachte die Oberin.
Und sie ist auch nicht tot. Sie könnte zurückkehren aus ihrem Reich, für das sie zu ihren normalen Lebzeiten schon immer geschwärmt hat.
Was soll ich tun?
Diese Frage beschäftigte die Frau, die hinter ihrem Schreibtisch saß und ihre Hände gegen das Gesicht schlug. Durch die Lücken zwischen den Fingern schaute sie auf die Platte und sah dort das Telefon stehen, die Verbindung zur Außenwelt.
Anrufen und Hilfe holen!
Aber wen?
Das Bistum konnte sie nicht damit behelligen. Dort würden ihr die Verantwortlichen etwas anderes sagen. Auch wenn die Dinge stimmten, sie konnten einfach nicht akzeptiert werden, denn so etwas war nicht vorgesehen.
Wer konnte ihr helfen?
Sie lehnte sich zurück. Die Hände lagen jetzt auf ihren Oberschenkeln. Der Blick glitt zur Decke. Er senkte sich auch, und sie schaute an den Wänden entlang, die bis auf ein schlichtes Holzkreuz kahl waren.
Noch war es Tag. In zwei Stunden würde die Dämmerung einsetzen, und die Oberin fürchtete sich plötzlich vor der Dunkelheit. Das war ihr noch nie passiert. In diesem Fall allerdings schon, denn hier war durch das Umbetten die Vergangenheit erwacht.
Und die war nicht gut. Beileibe nicht. Jedes Kloster hatte seine eigene Geschichte. Auch das, dem Schwester Josepha vorstand. Und die Geschichte war nicht immer gut.
Kloster hatten für Außenstehende schon immer etwas Geheimnisvolles an sich, was im Prinzip nicht stimmte. Man war hier trotz der Abgeschiedenheit eine offene Gesellschaft. Aber es lebten Menschen im Kloster, und Menschen waren nie perfekt. Es war auch kein Mensch gleich. Oft blieben Sehnsüchte und tiefe Ängste auch noch im Kloster bestehen, und es hatte auch Menschen gegeben, die einen anderen Weg gegangen waren als den vorgeschriebenen.
Was tun?
Der Gedanke quälte sie. Nur nicht den Bischof anrufen. Auch keinem in der Nähe lebenden Priester Bescheid geben, der ihr wahrscheinlich das Gleiche geraten hätte. Aber sie konnte nicht ohne Hilfe bleiben, denn das, was hier geschehen war, konnte man durchaus als den Anfang vom Ende bezeichnen.
Gab es wirklich keinen Ausweg?
Die Oberin stand auf und holte sich die Thermoskanne mit dem Kaffee. Er war noch heiß genug. Sie schenkte sich ein, ließ Milch hineintröpfeln und rührte gedankenverloren mit dem kleinen Löffel um.
Wem kann ich vertrauen?
Nach dieser Frage ließ sie beinahe ihr gesamtes Leben Revue passieren. Sie holte die Personen hervor, mit denen sie es zu tun gehabt hatte.
Plötzlich fiel ihr jemand ein, der anders gewesen war als die normalen Menschen, obwohl er auch in einem Kloster lebte. Keine Frau, sondern ein Mann.
Dieser Mann war aufgeschlossen gewesen. Schon kurz nach dem Kennenlernen hatte sie es gespürt.
Er glaubte auch an das, was normalerweise nach außen hin negiert wurde, weil es nicht in den allgemeinen Konsens passte.
Aber man sprach flüsternd darüber, und die Begriffe »Hölle« und »Teufel« hörten sich dabei ebenso wenig fremd an wie das Wort Dämonen.
Der Mönch hatte es nicht abgelehnt.
Sie kannte noch seinen Namen.
Father Ignatius!
Plötzlich konnte sie wieder lächeln. Der erste Schritt war
Weitere Kostenlose Bücher