1188 - Wartesaal zum Jenseits
Frösteln auf ihrem Rücken blieb, denn sie hatte diesen Geruch bestimmt nicht hinterlassen und ihre tote Mutter ebenfalls nicht. Er musste aus einer anderen Quelle stammen.
Sie atmete nur durch die Nase. Den rechten Arm drückte Tessa zurück und schloss die Tür. Mit einem leisen Schnacken fiel sie zu. Tessa fühlte sich plötzlich gefangen.
Auf der anderen Seite wollte sie jetzt unbedingt wissen, woher dieser Geruch stammte. Natürlich war ihr klar, dass die Quelle in der Wohnung lag. Da kamen eben nur die drei Zimmer in Betracht.
Ein Bad gab es in dem Sinne nicht. Die Toilette befand sich ein Stockwerk höher, und dort war auch eine kleine Dusche eingerichtet worden.
An der ersten Tür ging sie vorbei. Dahinter lag die Küche. Sie schaute hinein und fand sie menschenleer.
Rechts lag der Wohnraum. Ihm gegenüber das Schlafzimmer. Dessen Tür war nur angelehnt.
Sie schaute hindurch. Sah den Altar und die Kerze davor. Ebenfalls die kleine Heiligenfigur.
Alles war unverändert.
Blieb das Wohnzimmer.
Bei diesem Gedanken schlug Tessas Herz schneller. Ihre Finger bewegten sich nervös. Der Eindruck, in einer Kammer gefangen zu sein, drängte sich immer stärker in ihr hoch. Sie zwinkerte mit den Augen, als wäre Schweiß hineingelaufen. Plötzlich war ihr warm. Zudem wehte ihr der Geruch des Weihrauchs entgegen, und er raubte ihr einen Teil des Atems. Hinzu kam, dass sie Weihrauch nicht mochte. Das stammte noch aus ihrer Kindheit. Wenn der Kessel in der Kirche geschwenkt wurde, war ihr immer unwohl geworden.
Sie wollte nicht zurück. Sie musste ins Wohnzimmer schauen. Plötzlich waren alle Gefühle verschwunden, als sie die Tür erreicht hatte.
Sie war nicht geschlossen, und Tessa musste sie schon sehr weit aufstoßen, um einen Blick in den mehr langen als breiten Raum hineinwerfen zu können.
Es war alles wie immer.
Nein, nicht alles!
Es gab schon eine Veränderung. Auf dem Tisch glommen zwei Räucherkerzen und sorgten für den entsprechenden Weihrauchgeruch. Zwischen ihnen, aber in einem Sessel, saß ein Besucher, den Tessa gut kannte, auch wenn er nicht die gleiche Tracht trug wie auf dem Friedhof. Er hatte sich einen dunklen Anzug übergestreift und darunter malte sich ein brauner Pullover ab.
»Kommen Sie ruhig näher, Tessa«, sagte der Pfarrer…
***
Tessa Tomlin sagte nichts. Es hatte ihr tatsächlich die Sprache verschlagen, denn mit dem Besuch des Geistlichen hatte sie nicht gerechnet. Sie war so durcheinander, dass ihr nicht mal der richtige Name einfiel. Erst nach einigem Nachdenken wusste sie ihn wieder.
Der Mann hieß Ben Clemens.
Er saß da und lächelte. Sie konnte ihn zwischen den beiden aufgebauten Räucherkerzen sehen, aber dieses Lächeln, das seine Lippen in die Breite gezogen hatte, gefiel ihr überhaupt nicht. Für sie sah es nicht echt aus. Es war das Lächeln eines Schauspielers, der irgendwelchen Leuten etwas vormachen wollte und einige auch damit einlullen konnte. Nicht aber Tessa. Sie wehrte sich innerlich dagegen, und sie mochte den Geistlichen noch immer nicht, obwohl er ihr nichts tat. Er hatte seine Hände in den Schoß gelegt und wartete einfach nur ab. Das dünne graue Haar hatte er nach hinten gekämmt. Auch die Gesichtshaut zeigte keine gesunde Farbe. Sie war sehr bleich, als hätte der Mann die Sonne schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Die dünnen Lippen, die lappige Haut, die rechts und links des Kinns zwei Beutel bildete. Die farblosen Augen und dann dieses eingefrorene Lächeln, mit dem der Pfarrer Tessas Mutter wohl gelockt hatte.
Tessa hatte sich wieder gefangen und war auch bereit, den ersten Schritt in das Zimmer zu gehen.
»Was machen Sie hier, Mr. Clemens?«
Es blieb vorerst beim Lächeln. Dann streckte der Geistliche die rechte Hand zur Seite und deutete auf einen gelblichbraunen Cordsessel, dessen Sitzfläche zerschlissen war. »Aber nehmen Sie doch zunächst mal Platz, meine Liebe.«
Tessa wollte es eigentlich nicht, ging aber trotzdem hin und setzte sich. Entspannt war sie nicht. Sie hockte mehr auf der Kante. Der Blick fiel dabei auf den kleinen Altar, den ihre Mutter so geliebt hatte. Die Heiligenfigur schaute sie an, und Tessa hatte das Gefühl, als gäbe es in diesen Augen Leben.
»Ich sitze«, sagte sie, bemüht, der Stimme Festigkeit zu geben. »Und nun?«
»Entspannen Sie sich.«
»Ich fühle mich schon entspannt. Keine Sorge. Mich würde mehr interessieren, wie Sie überhaupt in diese Wohnung hineingekommen sind. Schließlich war sie
Weitere Kostenlose Bücher