1188 - Wartesaal zum Jenseits
abgeschlossen.«
»Das stimmt.«
»Für mich ist das keine Antwort.« Tessa fühlte sich wütend. Aggressionen stiegen in ihr hoch.
»Ich hatte einen Schlüssel«, erklärte der seltsame Geistliche lächelnd. »So konnte ich diese Wohnung hier völlig normal betreten. Beruhigt Sie das?«
»Nein, nicht ganz.«
»Wo liegt das Problem?«
»Wer gab Ihnen den Schlüssel? Schließlich ist die Miete noch bis zum Ende des Monats bezahlt.«
»Ihre Mutter.«
»Ach!« Tessa musste lachen. »Und das soll ich Ihnen wirklich glauben, Mr. Clemens?«
»Es ist die Wahrheit.«
»Nun ja, meine Mutter kann ich leider nicht mehr fragen.«
»Wer weiß…«
Diese Antwort irritierte Tessa. »Wie meinen Sie das denn?«
»Lassen wir das.«
Sie wollte es nicht, aber sie fühlte den zwingenden Blick des Pfarrers auf sich gerichtet und kam sich vor wie ein Mensch, der seinen eigenen Willen verliert. Die Wohnung der verstorbenen Mutter war ihr nicht mehr geheuer. Gut, sie hatte sich hier nie wohl gefühlt, aber an diesem Tag war es anders. Eine Erklärung konnte sie zwar geben, wollte sie jedoch nicht akzeptieren, weil der Verstand nicht mitmachte.
Lag es an diesem seltsamen Geistlichen? Oder am Geruch des Weihrauchs?
Tessa blieb auch nicht mehr auf der Kante sitzen. Sie kippte nach hinten, ohne es zu wollen und spürte plötzlich die Lehne des Sessels in ihrem Rücken.
Der Geistliche schaute sie noch immer an. Das Lächeln war geblieben, aber der Ausdruck in den Augen hatte sich verändert. Er sah irgendwie zufriedener aus.
»Sie müssen ruhig werden, mein Kind. Ganz ruhig. Ich würde nicht so zu Ihnen sprechen, wenn Sie nicht die Tochter einer besonderen Frau wären, die nun von uns gegangen ist. Sie sind wichtig, Tessa, das hat Marga mir immer gesagt. Sie sind ihr Fleisch und Blut. Es ist möglich, dass sie ihr Erbe antreten.«
»Zu ererben gibt es nichts.«
»Pardon, aber so habe ich es nicht gemeint.«
»Wie dann?«
»Es gibt auch ein anderes Erbe, Tessa. Eines, das nichts, aber auch gar nichts mit dem schnöden Mammon zu tun hat. Es ist das Erbe einer anderen Welt.«
Tessa versuchte zu lächeln. Sie wollte den Mann sogar auslachen, aber sie schaffte weder das eine noch das andere. Sie kam sich immer mehr vor, als würde sie von fremden Mächten dirigiert, wobei der Geistliche den unsichtbaren Taktstock schwang.
Trotzdem brachte sie einen Satz beinahe trotzig über die Lippen: »Meine Mutter ist tot!«
»Ja, das ist sie!«
»Wunderbar, Mr. Clemens. Sie jedoch tun so, als wäre sie das irgendwie nicht.«
»Ich habe Sie vorhin bestätigt.«
»Ihr Verhalten, Mr. Clemens…«
»Ja, was ist damit?«
Tessa stellte jetzt eine für sie wichtige Frage. »Sehen Sie den Tod mit anderen Augen an?«
Sie hatte damit gerechnet, dass der Geistliche sie auslachen würde, doch das tat er nicht. Er blieb sehr ernst, blickte sie an und runzelte dabei die Stirn. »Ich muss den Tod mit anderen Augen ansehen. Ich und eine Gruppe von Menschen, zu denen auch Ihre Mutter gehörte, haben sich damit beschäftigt. Der Tod ist nicht das Ende. Für uns ist er eine Umwandlung. Wir sterben, wir werden begraben…«
»Und die Körper verwesen!«
Da hatte Tessa etwas Falsches gesagt oder eine Antwort gegeben, der Ben Clemens nicht zustimmen konnte. Er sah sie plötzlich mit einem messerscharfen Blick an und schüttelte den Kopf. »Nein, Tessa, das ist es nicht. Das ist der Irrtum. Der Tod ist der Beginn. Er ist der Weg in den Wartesaal des Jenseits.«
Beinahe hätte Tessa gelacht, doch sie beherrschte sich im letzten Moment.
»Wartesaal ins Jenseits?«, flüsterte sie. »Bitte, wie soll ich das denn verstehen?«
»Es ist eine Welt für sich. Unsichtbar.«
»Hatte ich mir fast gedacht.«
Der Pfarrer ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Es gibt viele Welten, die uns Menschen verschlossen bleiben. Sie werden auch Dimensionen genannt, und in einer dieser Dimensionen befindet sich der Wartesaal zum Jenseits, der gefüllt ist mit den Geistern, die für uns so wichtig sind. Wir haben dafür gelebt, in den Wartesaal gelangen zu können, und unsere Freundin Marga hat es geschafft. Sie befindet sich dort und hat bereits eine Brücke geschlagen.«
Tessa spürte, wie sie schwitzte. Die Jacke war zu dick, aber sie zog sie nicht aus. »Wieso sollte sie eine Brücke geschlagen haben? Wer hat das denn gesagt?«
»Ich sage es.«
»Nun ja, da…«
»Lassen Sie mich ausreden. Über diese Brücke hat Marga mit ihrer Tochter Kontakt aufgenommen. Oder
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