1188 - Wartesaal zum Jenseits
Aber wichtig ist, dass sie in unseren Kreis eintreten.«
»Wer ist das denn schon wieder?«
»Kann ich Ihnen gern sagen. Sie haben ihn kennen gelernt. Es waren die Personen, die Ihre Mutter auf ihrem letzten Weg begleitet haben. Unsere Gemeinde. Die Freunde.«
Tessa runzelte die Stirn. Die Worte des Geistlichen hatten dafür gesorgt, dass ihr das Bild am offenen Grab wieder vor die Augen kam. Sie erinnerte sich gut daran. Sie sah die für sie fremden Männer und Frauen. Schon dort waren sie ihr mehr als komisch vorgekommen, und sie konnte auch nicht verstehen, dass ihre Mutter sich mit diesen Personen abgegeben hatte. Ihr waren sie alles andere als sympathisch gewesen. Sehr fremd waren sie ihr vorgekommen, wenn nicht sogar abweisend.
»Warum sagen Sie nichts, Tessa?«
»Ich denke über die Menschen nach. Waren es denn die Bewohner hier aus dem Ort?«
»Nein, Tessa, nicht nur. Es waren auch andere Menschen aus Dörfern in der Umgebung dabei. Noch sind wir nur eine kleine Gemeinde, aber es werden mehr.«
Sie lachte leicht. Auch um die Unsicherheit zu verbergen. »Sagen Sie mal, Mr. Clemens, was das für eine Gemeinde ist, der meine Mutter angehört hat. Können Sie mir das hier aufzählen? Was steckt dahinter? Was wollte sie?«
»Wir suchen den besten Weg in den Himmel. In das reine Glück. Wir leben nach den Regeln mancher Heiliger. Der Heiligen, die nicht so bekannt sind, verstehen Sie?«
»Nein, nicht genau.«
»Gut, dass wir Zeit haben, Tessa, dann kann ich es Ihnen erklären. Im Himmel oder im Jenseits existieren unzählige Heilige. Nur die wenigsten von ihnen sind den Menschen bekannt. Namentlich, meine ich. Aber ihre Zahl ist wahnsinnig groß, und sie werden auch allgemein verehrt. Sie haben ein wunderbares Leben hinter sich, und für sie war der Platz im Himmel reserviert.«
»Nicht im Wartesaal?«
Der Geistliche hatte die Ironie nicht bemerkt oder nur so getan. »Wir nennen es so, und wir möchten ebenfalls dorthin gelangen. Dafür leben wir. Ihre Mutter war die Erste von uns, die das Glück gehabt hat. Wir beneiden sie.«
Tessa schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich sie beneiden soll. Mit mir jedenfalls hat sie nie über den Tod gesprochen. Zumindest nie intensiv. Ich habe eher den Eindruck gehabt, dass sie noch gern gelebt hätte. Aber da war das Herz, das nicht mehr mitspielte, obwohl sie noch so jung war.«
»Ja, es war der Herzschlag. Ich fand sie hier in der Wohnung. Himmel, sie sah so friedlich aus. Es war wirklich ein Bild des Friedens. Sie hat im Tod gelächelt, denn sie wusste genau, wohin sie kommen würde. Man hat ihr schon einen ersten Blick gegönnt. Davon können wir alle nur träumen.«
Tessa hätte den Mann am liebsten angeschrieen, mit diesem salbungsvollen Mist aufzuhören, doch das schaffte sie einfach nicht. Dafür hatte er zu überzeugend gesprochen. Er glaubte an das, was er sagte. Ihr war zudem klar, dass dieser Mann durchaus als charismatische Erscheinung bezeichnet werden konnte. Von ihm ging etwas aus, dem Tessa einfach nicht widerstehen konnte.
Noch immer produzierten die beiden Kerzen den Weihrauchgeruch, auch wenn sie schon kleiner geworden waren.
Der Geistliche schickte Tessa ein unechtes Lächeln, bevor er wieder sprach. »Ich merke und sehe es Ihnen an, dass Sie mir nicht so recht glauben. Aber es gibt Beweise, dass Ihre Mutter in einer anderen Form noch unter uns weilt.«
»Meinen Sie damit ihre Worte?«
»Nicht nur, Tessa.« Er fügte nichts mehr hinzu und stand auf. Schon nach dem ersten Schritt bückte er sich wieder und fasste nach der Heiligenfigur auf dem Altar. Für die Dauer einiger Sekunden schaute er sie versonnen an, drehte sich dann um und kam mit der Figur auf Tessa zu, die nichts sagte.
Sie war gespannt. Die Lippen waren verschlossen. Sie wusste irgendwie, dass etwas Entscheidendes auf sie zukommen würde. Deshalb verkrampfte sie sich auch.
Der Geistliche blieb vor ihr stehen. Er betrachtete die Holzfigur, die rücklings auf seiner Handfläche lag. »Ja«, sagte er mit leiser Stimme. »Es ist genau diese Frau, der Ihre Mutter so zugetan war. Sie hat sie wirklich geliebt und ist ihr Ein und Alles gewesen. Marga wollte so werden wie sie.«
»Hat sie einen Namen?«, fragte Tessa.
»Nein.«
»Dann ist es doch…«
»Sie hat sie einfach Marga genannt. Die Heilige Marga. Das tat ihr gut.«
Tessa räusperte sich. Das musste sie einfach tun. Es war ihr alles unbegreiflich geworden, und sie spürte wieder, wie ein kalter Schauer über
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