1188 - Wartesaal zum Jenseits
hier, um auf etwas Bestimmtes zu warten, was letztendlich auch mit ihr zu tun hatte. Vielleicht wollten sie beobachten, wie sie als Tochter reagierte. Jede ihrer Bewegungen stand unter Kontrolle, und sie merkte, wie es in ihr eiskalt wurde und ihr Blut wie Eis durch ihre Adern zu kriechen schien. Sie atmete durch den offenen Mund, die Sekunden dehnten sich in die Länge. Es gab für sie nichts mehr, das noch normal war.
Jeder hörte das Klingeln.
Eine Melodie. Zart, aber trotzdem fordernd. Wieder bekam Tessa einen roten Kopf. Die Knie gaben nach. Sie fluchte innerlich, denn es war ihr Handy, das sich gemeldet hatte.
Aber warum?
Eigentlich unmöglich. Sie hatte es abgestellt. Es hätte gar nicht klingeln dürfen.
Oder doch nicht?
Sie war irritiert. Das Handy klingelte weiter. Eine fröhliche Melodie. Komponiert von Mozart. Um Tessa herum standen die Glotzer und warteten darauf, dass sie sich meldete.
Die Hände bewegten sich nervös. In irgendeiner Tasche steckte der Apparat. Innen - außen?
Innen!
Endlich. Sie hatte ihn. Die Hand zitterte. Noch mehr kam sich Tessa vor wie auf einer Bühne. Die Hand war schweißnass, und der schmale Apparat wäre ihr beinahe aus den Fingern gerutscht.
An, aus?
Er war aus. Und trotzdem…
Sie meldete sich, denn jetzt war ihr alles egal. »Ja, bitte, wer spricht dort?«
Eine kurze Pause. Danach das leise Lachen. Tessa wurde schon da vom Grauen erfasst, doch es potenzierte sich noch, als sie die fragende Singsang-Stimme hörte.
»Wie geht es dir, Kind?«
Tessa schrie auf. Das Handy rutschte aus der Hand. Es landete dicht vor der Graböffnung. Die junge Frau selbst brach zusammen, denn die Stimme aus dem Handy hatte ihrer toten Mutter gehört…
***
Warum werde ich nicht bewusstlos? Warum sterbe ich nicht? Warum drehe ich nicht durch?
Auf Tessa stürmten plötzlich Fragen ein. Sie fühlte sich wie in einem Karussell sitzend, das sich immer schneller drehte, um sie mitzureißen. Das war der reine Wahnsinn. Das war wie ein Tritt gegen den Magen und das Gesicht zugleich.
Vor ihren Augen war die Welt verschwunden. Sie sah alles nur noch in düsteren Farben. Erst nach einer Weile wurde ihr klar, dass sie auf dem Boden hockte, den Grabhügel im Rücken. Sie fühlte sich getreten und kleingemacht, während das Herz wie verrückt in ihrer Brust pumpte. Jeder Schlag tat ihr weh und schien ihre Brust sprengen zu wollen. Erst ganz allmählich schälte sich die normale Welt wieder hervor, und so sah sie die Trauergäste und den Pfarrer, der ihr Handy aufgehoben hatte und hineinsprach.
Mit wem er redete, wusste Tessa nicht. Sie wollte es auch nicht glauben, dass er Kontakt mit ihrer Mutter hatte. Das war ihr einfach alles zu viel.
Sie hörte auch nicht, was er sagte. Er stand auf dem Fleck und hatte die Stimme gedämpft.
Jemand reichte ihr seine Hand. Es war ein Mann im dunklen Mantel. Gar nicht mal so alt, aber sehr starr aussehend. Erst wollte Tessa die Hand nicht umfassen. Dann überlegte sie es sich anders und ließ sich in die Höhe ziehen.
Die Haut kam ihr vor wie ein kaltes Stück Fleisch. Da gab es einfach keine Wärme. Sie kam auf die Füße, ging einen falschen Schritt und wäre beinahe in das Grab gestürzt, aber der Mann hielt sie fest. Dabei flüsterte er etwas, was sie nicht verstand.
Der Geistliche hielt noch immer das Handy fest. Er sprach nicht mehr und streckte Tessa das flache Gerät entgegen. Die junge Frau zögerte, danach zu greifen, und tat es, als der Pfarrer nickte.
Es fiel ihr wahnsinnig schwer, es gegen das Ohr zu drücken. Als sie Kontakt bekam, hatte sie das Gefühl, einen Klumpen Eis an ihrem Ohr zu spüren.
Es war aus, aber es war trotzdem an. Sie befand sich in einer Lage, in der sie es herausfinden konnte, ohne gleich durchzudrehen. Sie hörte, dass jemand Kontakt haben wollte.
»Wie geht es dir, Kind?«
Tessa hatte nur für sich hörbar diese Frage wiederholt. Dabei aber in das Handy gesprochen. Sie erhielt sogar eine Antwort, eine Flüsterstimme, eingepackt in leises Rauschen.
»Wir sind ja so dicht beisammen. Die Toten und die Lebenden. Du glaubst gar nicht, wie wenig uns trennt, meine Tochter. Es ist alles so wunderbar geregelt.«
Tessa konnte nicht sprechen. Sie hatte das Gefühl, jemand hätte ihr die Beine weggezogen. Jetzt schwebte sie plötzlich zwischen Himmel und Erde wie ein Geist, der sich nicht entscheiden kann, in welche Richtung er sich bewegen will.
Was ihre Mutter gesagt hatte, stimmte schon. Das war alles okay. Es gab
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