1188 - Wartesaal zum Jenseits
das Jenseits. Es gab auch das Diesseits. Aber dass sich die Toten meldeten, das hatte sie bisher nicht erlebt. Zumindest nicht in der Wirklichkeit. So etwas gab es nur in Filmen oder auch in irgendwelchen Romanen.
»Tessa…?«
Sie musste schlucken.
»Warum sagst du nichts?«
»Mutter?« Endlich - endlich hatte sie das Wort hervorgebracht. Es war ihr so irrsinnig schwer gefallen. Sie konnte noch immer nicht daran glauben, und wieder hatte sie das Gefühl, dass der Fleck, auf dem sie stand, zu einem Kreisel wurde. Tessa bewegte ihre Arme, weil sie Halt finden wollte. Und sie schaute dabei zum blassblauen Himmel, als wäre dort die feinstoffliche Gestalt der Mutter zu sehen, aber da sah sie nichts. Nur den leichten Dunst und die kahlen Äste der Bäume.
»Es ist schön, dich zu hören. Aber du klingst so traurig, und das gefällt mir nicht.«
Es war Tessa jetzt gleichgültig, ob man ihr zuhörte oder nicht. Sie musste jetzt einfach sprechen, und sie redete auch laut. »Himmel, du bist tot, Mutter. Ich… ich… muss einfach traurig sein. Soll ich denn darüber lachen?«
»Nein, Tessa, nein.«
»Bist du denn nicht tot?«
»Ich bin glücklich.«
»Haha…« Ein scharfes Lachen verließ Tessas Mund. Sie hatte sich einfach nicht zurückhalten können. Nein, das wollte sie nicht glauben. Aber das Lachen kehrte sich um. Es wurde zu einem Schluchzen. Plötzlich hasste Tessa das Gerät, das sie in der Hand hielt. Sie hätte es am liebsten mit ihren Fingern zerknackt und weggeworfen. Sie hasste die Menschen um sich herum. Ihre Mienen, ihre gespielte Anteilnahme. Plötzlich kamen sie ihr vor wie Geier. Selbst der Geistliche glotzte sie aus starren Augen an.
»Wo bist du, Mutter?«
»In einer anderen Welt. Im Wartesaal zum Jenseits!«
Die letzte Antwort war für die junge Frau zu viel. Sie schrie noch mal auf und schleuderte das Gerät mit einer wütenden Bewegung zur Seite. Fast hätte es den Kopf einer Frau getroffen. Es flog dicht an ihrem Ohr vorbei und krachte gegen einen krummen Baumstamm.
Tessa Tomlin stand am Grab. Sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Sie konnte die geierartigen Blicke nicht mehr ertragen. Alle schienen nur darauf gewartet haben, dass so etwas eintrat.
Der Sarg stand im Grab. Es hätte sie nicht gewundert, wenn der Deckel plötzlich in die Höhe geflogen wäre, um die Tote als wieder zurückgekehrte Person zu entlassen.
Alles war möglich in einer verdammten Welt, in der einfach nichts mehr stimmte.
Tessa konnte nicht mehr schweigen. Sie musste sich Luft verschaffen, und sie brüllte dabei die Trauergäste nebst Pfarrer an. »Habt ihr es gehört?«, schrie sie. »Habt ihr alles gehört? Mit mir hat eine Tote gesprochen. Über mein Handy, das gar nicht mal eingeschaltet war. Eine tote Frau - meine Mutter!«
Zunächst reagierte keiner der Anwesenden. Dann sah Tessa, wie sie nickten. Auch der Geistliche machte mit. Dieses Nicken sah so normal aus, als wäre der Vorgang keine Überraschung für sie gewesen. Der Geistliche lächelte sogar und dann deutete er ein Nicken an.
Tessa schüttelte den Kopf. Schon die ganze Zeit über waren ihr die Trauergäste nicht koscher vorgekommen. Sie hatten sich so wenig wie Menschen benommen. Nun spürte sie etwas, das ihr Angst einjagte. Die Leute brauchten nichts zu sagen und einfach nur dazustehen, aber das reichte schon aus.
Sie wussten Bescheid. Der Blick in die Gesichter reichte. Das kalte Lächeln, das Funkeln der Augen. Tessa wurde immer stärker klar, dass sie hier am falschen Ort war. Sie hätte einfach nicht hinfahren sollen. Diese Welt war nichts für sie. Auf das Handy wollte sie verzichten. Sie hatte gelernt, es zu hassen, und sie hasste die gesamte Umgebung hier.
»Ich gehe!«, rief sie den Leuten zu. »Ich kann nicht mehr länger hier am Grab bleiben. Unmöglich.«
»Aber deine Mutter, Tessa…«
Sie fuhr zu dem Sprecher herum. Es war der Pfarrer, und dem sagte sie ins Gesicht, was sie dachte.
»Meine Mutter ist tot!« schrie sie. »Verdammt noch mal, sie lebt nicht mehr! Begreift das doch!«
Ihre rechte Hand deutete in das viereckige Loch. »Da ist ihr verdammter Platz.«
»Und die Stimme, Tessa?« erkundigte sich der Pfarrer sanft. »Hast du sie vergessen?«
»Nein, das habe ich nicht. Aber ich weiß auch, dass Tote nicht mehr sprechen können. So etwas geht nicht. Auch für sie gibt es Grenzen. Es war ein Zufall. Die Technik hat verrückt gespielt. So etwas gibt es. Daran glaube ich eher als an die Stimmen Verstorbener,
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