1195 - Der Engelskerker
Clarissa vorgeschickt hatten.
»Stimmst du zu?«, fragte sie.
Ich zögerte ein wenig. »Im Prinzip stimme ich schon zu, Clarissa. Nur weiß ich zu wenig, auch wenn Michaela es geschafft hat, mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich habe sie tatsächlich gehört, wenn auch auf einem ungewöhnlichen Weg und…«
»Das weiß ich.«
»Ach. Woher denn?«
»Auch wir haben ihre Qual gehört und die Suche nach Hilfe. Das kannst du mir glauben.«
»Gut«, sagte ich und nickte. »Wie lange steckt sie schon in diesem Verlies oder wo auch immer?«
»Das kann ich nicht genau sagen. Aber sehr lange, meinen auch die anderen.«
»Warum wurde sie eingekerkert?«
Clarissa hob die schmalen Schultern. »Die Menschen müssen schlimm gewesen sein. Sie konnten nichts mit ihr anfangen. Man hat sie dann entfernt.«
»Ja«, murmelte ich. »Entfernt ist gut, sehr gut sogar.«
»Es wird Zeit, John. Es sind ihre letzten Versuche, um freizukommen. Das musst du doch erkannt haben, wenn du die Schreie gehört hast. Bitte, tue etwas!«
»Gut, ich werde nach Goslar fahren.«
Clarissa lächelte und fing sogar an zu zittern. Vielleicht vor Vorfreude und Aufregung. »Das ist wunderbar. Das habe ich von diesem Besuch erhofft. Ich bin dir schon jetzt dankbar, John. Es war das Richtige, zu dir zu kommen.«
»Wenn du das sagst. Und noch eine Frage habe ich. Werde ich dich denn auch in Goslar sehen?«
Sie sah mich fast traurig an. »Das weiß ich leider nicht, John. Ich glaube es nicht. Nein, ich werde wohl nicht in der Stadt sein.«
»Schade.«
»Aber sie wird dich führen. Davon bin ich überzeugt.« Ein letztes Nicken noch, dann stand sie auf.
»Du willst schon gehen?« Ich tat verwundert. »Das ist schade. Ich dachte, dass wir noch miteinander sprechen könnten. Ich will zwar nicht neugierig sein, aber ich dachte mir, dass du mir noch einiges erzählen…«
»Bitte.« Sie streckte mir die Hände entgegen. »Ich kann deinen Wunsch zwar verstehen, aber ich habe nicht die Zeit, um darüber mit dir zu reden.«
»Musst du weg?«
»Ja.«
»Und wohin?«
Clarissa Mignon stand auf. »Wieder in meine neue Welt. In mein neues Leben.«
»Das dir gefällt?«
Das Templerkind nickte. »Sehr sogar. Ich liebe meine neue Existenz. Ich habe das Gefühl gehabt, nur gelebt zu haben, um dorthin zu gelangen. Jetzt bin ich da, und ich habe in Elohim einen wunderbaren Freund gefunden.«
»Das freut mich.«
»Ja, mich auch. Ich lerne viel. Ich erlebe, dass die Welt auch noch aus anderen Dingen besteht als aus denjenigen, die man selbst sehen kann. Das ist einfach wunderbar für, mich. Ich mag es - ehrlich, und ich möchte nicht mehr zurück in das Heim. Ich bin ein besonderes Geschöpf und fühle mich endlich wohl. Ich kann mich ausleben. Man lässt mich auch. Deshalb sage ich dir jetzt auf Wiedersehen.« Sie streckte mir ihre schmale Hand entgegen, die ich nahm.
Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, zu versuchen, Clarissa Mignon aufzuhalten. Sie war einen anderen Weg gegangen. Sie hatte sich dafür entschieden, und aus dieser unfreiwilligen Entscheidung war jetzt eine freiwillige geworden. Nie käme ich auf den Gedanken, dass sie aus ihrem neuen Leben fliehen würde. Deshalb machte ich auch gar nicht den Versuch, sie aufzuhalten.
Ihre Hand war so schmal, doch der Druck recht kräftig. Er zeugte von einem gesunden Selbstbewusstsein. Noch einmal lächelte sie mich an, dann löste sie ihre Hand aus meiner und drehte sich langsam um.
Mit leichten Schritten ging sie auf den Flur zu. Wenig später schon war sie an der Wohnungstür. Ich hörte, wie Clarissa sie öffnete und ging ihr nach. Sie war wirklich ein besonderes Mädchen. Eines, das Stimmen gehört und Gestalten gesehen hatte. Geister, die sie hatten entführen wollen. Die Geister ihrer Eltern, die beide Templer gewesen waren, sich jedoch auf die andere Seite gestellt hatten, um dem Dämon Baphomet zu dienen. Sie hatten letztendlich auch ihre Tochter zu sich holen wollen, das hatte ich zum einen Teil verhindern können, nicht jedoch die »Entführung«. durch Elohim, die sich schließlich für das Kind als positiv herausgestellt hatte, wie ich im Nachhinein zugeben musste.
Clarissa schaute sich kein einziges Mal um, als sie meine Wohnung verließ. Ich blieb in der offenen Tür stehen und verfolgte, wie sie zum Aufzug ging.
Sie zog die Tür auf. Beim Eintreten drehte sie den Kopf, um mir einen letzten Blick zuzuschicken.
Ich sah ihr Lächeln, dann betrat sie den Lift.
Die Tür schloss sich.
Ich lief
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