12 – Das Raetsel von Chail
euch misstrauisch sind. Wenn sie nur einen Funken Verstand besitzen, werden sie ein Kind nicht gleich in der ersten Nacht wegbringen.«
Yrstam seufzte. »Wir wussten jedes Mal, dass die Geburt eines Kindes bevorstand«, erklärte er. »Und wir haben die Hütte schon seit langem beobachtet. Ja, es gibt bestimmte Kräuter, die betäubend wirken – aber sie müssen frisch sein. Bestenfalls kann man einen Saft aus ihnen pressen, der sich für einige Tage hält. Der Uralte in der Hütte bekommt pro Abend eine Mahlzeit und einen Krug mit Wasser – keine Kräuter oder andere Dinge. In der ganzen Zeit hat niemand heimlich etwas zu der Hütte gebracht, und es ist auch niemand herausgekommen.«
»Verdammt!«, explodierte der Arkonide. »Wenn da drinnen jemand lebt, dann muss sich das doch irgendwie bemerkbar machen! Dem Uralten wird Nahrung geliefert – dementsprechend muss er auch etwas ... ausscheiden.«
Sie waren mittlerweile vor der fraglichen Hütte angelangt. Yrstam deutete hinüber. »Der Anbau dort«, sagte er nüchtern, »stellt die Toilette dar. Der entsprechende Kübel wird einmal in der Woche geleert – meistens ist er jedoch leer.«
Atlan starrte den Chailiden an. »Dann ist es auch die Hütte. Leer, meine ich.«
»Wenn sie leer ist – wer hat dann das Kind genommen?«
»Diese Frage solltest du am besten beantworten können«, versetzte Atlan grimmig. »Ich denke, du hast alles beobachtet?«
»Ich saß auch diesmal hier, hinter diesem Busch«, sagte Yrstam ruhig. »Ich konnte das Kind die ganze Zeit hindurch sehen. Dann kamst du den Weg entlang. Ich wurde abgelenkt. Es ist ... gegen die Regeln, die Hütte des Uralten bei Nacht zu beobachten. Ich fürchtete, es könnte ein Chailide sein, der uns auf die Spur gekommen ist. Du bist dort an der Ecke stehengeblieben. Dann bist du umgekehrt. Ich habe dir nachgesehen, bis du hinter dem Haus verschwunden bist. Und als ich wieder zur Tür blickte, war das Kind nicht mehr da.«
»Es tut mir leid«, murmelte der Arkonide. »Ich konnte nicht wissen, was hier vorgeht.«
»Es braucht dir nicht leid zu tun«, sagte der Chailide. »Es ist immer so, wenn ein Kind verschwindet: Im passenden Augenblick wird für eine Ablenkung gesorgt.«
»Hast du nicht wenigstens etwas gehört?«, fragte Atlan. »Diese Tür – nach deinen eigenen Aussagen ist sie seit langem nicht geöffnet worden.«
»Entweder lässt sie sich lautlos öffnen, oder sie hat sich überhaupt nicht bewegt«, antwortete Yrstam.
»Wie meinst du das?«, fragte der Arkonide.
Im selben Augenblick klangen laute Rufe auf. Atlan fuhr herum, darauf gefasst, erregten Chailiden entgegentreten zu müssen, die sich alle weiteren Nachforschungen verbaten. Stattdessen sagte Yrstam neben ihm:
»Jemand ist verletzt worden. Man hat bereits den Heiler gerufen, und ich muss ihm helfen.«
Atlan dachte, dass auch diese Ablenkung wie auf ein Stichwort kam, und er hatte das sehr bestimmte Gefühl, dass jemand ihn auf Schritt und Tritt beobachtete. Er warf einen misstrauischen Blick auf die Hütte, die so unscheinbar wirkte und doch ein großes Geheimnis barg. Dann wandte er sich ab und folgte Yrstam.
6.
Der Verdacht, dass irgendeine unbekannte Macht einen Unfall arrangiert haben könnte, um das Gespräch zwischen Atlan und Yrstam zu unterbrechen, fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Der Unfall war nämlich schon viel früher passiert.
Als Atlan seine beiden Gefährten sah, atmete er unwillkürlich auf. Ihnen war offensichtlich nichts geschehen. Dann dachte er an Chessam, und ein eisiger Schrecken überfiel ihn.
Ein Dutzend Chailiden umstanden eine aus Ästen und beblätterten Zweigen zusammengebaute Trage. Er blickte durch eine Lücke in dem Ring aus Leibern und fand seine böse Vorahnung bestätigt.
Es war Chessam. Blass und reglos lag sie auf der Trage. Ein älterer Chailide kniete neben ihr. Gerade in diesem Augenblick sah er auf.
»Es ist nicht so schlimm«, sagte er beruhigend. »Sie wird es überleben. Yrstam, hilf mir, sie von hier wegzuschaffen.«
Atlan sah dem Zug ausdruckslos nach. Das musste der Heiler sein, von dem Amodar gesprochen hatte. Er bezweifelte, dass der Chailide sein Versprechen würde wahrmachen können. Chessams Zustand war bedenklich. Ihr rechter Arm war von der Schulter bis zum Ellbogen aufgeschlitzt. Man hatte die Wunde zwar abgebunden, aber das Mädchen hatte offensichtlich bereits sehr viel Blut verloren. Abgesehen davon gab es noch andere Wunden ...
»Es war schrecklich
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