12 – Das Raetsel von Chail
Chailide fuhr seiner Partnerin liebevoll übers Gesicht und verließ dann rasch den Raum. Mit großen Schritten durchquerte er die übrigen Zimmer und trat hinaus auf die aus festgestampftem Lehm bestehende Straße. Sie wirkte wie ausgestorben.
Maton zögerte nicht. Getrieben von der Sorge um Benta und das Ungeborene schnellte er sich in weiten Sprüngen davon, wie es die Jäger taten, wenn sie ihre Beute verfolgten.
Der Chailide war noch relativ jung; er schaffte es nahezu mühelos, die halbe Stadt in diesem Tempo zu durchqueren. Noch vor einem Dutzend Monden hatte er als Angehöriger eines Trupps Jugendlicher als Jäger und Sammler ganz andere Strapazen überstehen müssen.
Obwohl es bereits ziemlich dunkel war, bereitete es Maton keine Schwierigkeiten, das in einer Nebenstraße gelegene Haus des Heilers zu finden. Es war aus Natursteinen errichtet, und das einzige, über dessen Eingang bei Nacht eine Öllampe angezündet wurde.
Cendran war noch wach. Er hielt sich im ebenerdigen Behandlungszimmer auf, das ein Mittelding zwischen Alchimistenküche und Vorratslager war. Hier braute der Heiler seine Medizin, mixte Tees und Elixiere und stellte Pulver und Säfte her. Deckenhohe Holzregale beherrschten die Wände, angefüllt mit Kisten und Kästen, in denen er Blätter, Früchte, Wurzeln und was der Dinge mehr waren, aufbewahrte.
Als Maton den Raum betrat, beugte Cendran sich gerade vor, so dass sein Gesicht von der rußenden Öllampe erhellt wurde. Er zerstampfte in einem Mörser irgendwelche Pflanzenteile und wirkte sehr konzentriert.
»Guten Abend, Cendran.«
Der Heiler war nicht im mindesten überrascht, zu dieser späten Stunde noch Besuch zu erhalten. Gelassen legte er den Stößel zur Seite und hielt die Lampe hoch, um zu sehen, wer da im Zimmer stand. »Ah, du bist es, Maton. Was gibt es?«
»Nicht so laut, Cendran. Oder bist du allein?«
»Nein, meine Gehilfen befinden sich noch oben. Ebenso zwei Kranke, doch die werden schon schlafen«, beruhigte der Heiler. Er stellte das Licht auf den Tisch zurück.
Der junge Chailide trat neben den Älteren. »Ich bitte dich, mit mir zu kommen«, sagte er so leise, als fürchtete er, belauscht zu werden. »Bei Benta haben die Wehen eingesetzt.«
Der breite Mund mit den kaum sichtbaren Lippen verzog sich zu einem Lächeln. »Es ist euer erstes Kind, nicht wahr?«
Maton bejahte.
»Dann haben wir noch Zeit«, sagte der Heiler und nahm seine unterbrochene Tätigkeit wieder auf. »Bei Erstgebärenden kann sich die Geburt fast einen halben Tag hinziehen.«
Die Gelassenheit seines Gegenübers verschlug dem Jüngeren für einen Moment die Sprache. »Ich weiß!«, stieß er dann nervös hervor. »Aber Benta ist allein. Ich meine, nicht ganz allein. Lofos, ihre Ziehmutter ist bei ihr, doch sie ist eine alte Frau, sie kann nicht viel tun. Benta hat Schmerzen, Cendran.« Bittend sah er den Heilkundigen an. »Komm mit mir. Ich werde eine Woche lang nur für dich arbeiten und tun, was du verlangst. Ich bin sogar bereit, in die Sodos-Sümpfe zu gehen.«
Überrascht hielt der Heiler in seiner Arbeit inne. »Du willst in die Sodos-Sümpfe gehen?«
»Ja, wenn du dafür mit mir kommst und Benta hilfst – jetzt gleich.« Maton fühlte, dass der andere wankelmütig wurde. »Es gibt in den Sodos-Sümpfen Pflanzen, die sonst nirgendwo wachsen, nicht wahr? Ich bin sicher, dass du einige von ihnen gebrauchen kannst.«
»Das stimmt«, murmelte Cendran nachdenklich. »Nur dort wächst beispielsweise das Gelbe Kreuzkraut, dessen Extrakt das einzig wirksame Mittel gegen das tödliche Nervenfieber ist.« Mit seinen weit auseinanderstehenden grauen Augen blickte der Heiler Maton an. »Aber die Sodos-Sümpfe sind gefährlich. Nur wenige, die dorthin aufgebrochen sind, kehrten auch zurück.«
Nun lächelte der nächtliche Besucher. »Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen, Cendran. Als ich noch Jäger war, gehörte auch der Sumpf zu meinem Revier. Ich kenne seine Tücken.«
»Also gut, ich komme mit dir.« Der alte Chailide nahm eine derb wirkende Ledertasche, packte ein paar Tiegel und Instrumente ein und löschte die Lampe. »Wir können gehen!«
Geradezu erlöst wandte sich der nur mit einem knappen Lendenschurz bekleidete junge Mann zur Tür und eilte hinaus. Der Heiler hatte Mühe, ihm zu folgen. Maton wartete bereits auf der Straße, als Cendran auf der Schwelle seines Hauses erschien.
»Gib mir die Tasche, dann kommen wir schneller voran.«
Der Ältere tat ihm den
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