12 - Im Auge des Tigers
mir nicht gesagt, wie schwer es sein würde, erinnerte sich Hendley. So war Jack Ryan immer vorgegangen: Er hatte fähige Leute ausgewählt, ihnen eine Mission übertragen, sie mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet und sie dann machen lassen – mit möglichst wenig Einmischung von oben. Dadurch war er ein so guter Boss gewesen und auch ein ziemlich guter Präsident, wie Gerry fand. Seinen Untergebenen machte er das Leben auf diese Weise allerdings nicht gerade leichter. Hendley fragte sich, warum zum Teufel er diese Aufgabe übernommen hatte. Doch dann musste er lächeln. Wie Jack wohl reagieren würde, wenn er erführe, dass sein eigener Sohn dem Campus angehörte? Würde er den humoristischen Aspekt erkennen?
Wohl kaum.
»Pete meint also, weitermachen und abwarten?«
»Was soll er sonst meinen?«, fragte Davis zurück.
»Sagen Sie mal, Tom, haben Sie sich schon mal auf die Farm Ihres Dads in Nebraska zurückgewünscht?«
»Grässlich harte Arbeit, und auch ziemlich öde da drau-
ßen.« Nachdem Davis erst einmal CIA-Einsatzagent geworden war, hätten ihn keine zehn Pferde auf der Farm halten können. Jetzt mochte er in seinem weißen – seinem
»offiziellen« – Leben ein ziemlich guter Anleihenbroker sein, aber Davis’ eigentliche Machenschaften waren nicht 261
weißer als seine Haut. Zu sehr liebte er die Einsätze in der Welt der schwarzen Geschäfte.
»Was denken Sie über diese Geschichte aus Fort Meade?«
»Mein Gefühl sagt mir, dass da was im Busch ist. Wir haben sie empfindlich getroffen. Jetzt wollen sie es uns heimzahlen.«
»Meinen Sie, die konnten sich so schnell wieder berappeln? Haben unsere Truppen ihnen in Afghanistan nicht ziemlich zugesetzt?«
»Gerry, manche Leute sind einfach zu blöde oder zu fanatisch, um zu merken, dass sie angeschlagen sind. Religion ist eine starke Triebkraft. Und selbst wenn ihre Attentäter zu dumm sind, die Tragweite ihrer Handlungen zu begreifen…«
»Dann reicht ihr Grips doch allemal, um ihre Missionen auszuführen«, beendete Hendley den Satz.
»Ist das nicht der Grund, warum wir hier sind?«, fragte Davis.
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Kapitel 11
Über den Fluss
Aus der Morgendämmerung wurde rasch Tageslicht. Die plötzliche Helligkeit sowie ein Schlagloch in der Straße rissen Mustafa aus dem Schlaf. Er schüttelte die Müdigkeit ab und wandte sich zu Abdullah um, der lächelnd am Steuer saß.
»Wo sind wir?«, fragte der Anführer des Teams seinen wichtigsten Untergebenen.
»Östlich von Amarillo, noch eine halbe Stunde bis dahin.
Die letzten dreihundertfünfzig Meilen waren ganz angenehm zu fahren, aber bald muss ich tanken.«
»Warum hast du mich nicht schon vor Stunden geweckt?«
»Warum denn? Du hast so tief geschlafen, und die Straße war die ganze Nacht über fast völlig frei, bis auf die verdammten Riesentrucks. Offenbar schlafen die Amerikaner nachts alle. Ich glaube, ich habe in den letzten Stunden nicht mehr als dreißig richtige Autos gesehen.«
Mustafa warf einen prüfenden Blick auf den Tacho. Das Auto fuhr nur 65 Meilen pro Stunde, Abdullah hielt sich also an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Und sie waren 263
nicht von der Polizei angehalten worden. Er hatte keinen Grund, sich aufzuregen – außer dass Abdullah nicht so strikt seine Anweisungen befolgt hatte, wie es ihm, Mustafa, lieb gewesen wäre.
»Da!« Der Fahrer deutete auf ein blaues Tankstellen-schild. »Wir können tanken und uns was zu essen besorgen.
Ich hätte dich hier sowieso geweckt, Mustafa. Sei unbesorgt, mein Freund.« Die Tankanzeige stand, wie Mustafa bemerkte, nur noch knapp über »E«. Es war unvernünftig von Abdullah gewesen, nicht schon eher einen Tankstopp ein-zulegen, doch es hätte keinen Sinn gehabt, ihn jetzt dafür zu maßregeln.
Sie bogen auf den Parkplatz einer größeren Raststätte ein.
An den automatischen Zapfsäulen stand »Chevron«. Mustafa zückte seine Brieftasche und schob seine Visa-Card in den Schlitz, dann tankte er voll. Der Tank des Ford fasste mehr als 90 Liter Super-Benzin.
Inzwischen hatten die übrigen drei nacheinander die Toilette der Raststätte aufgesucht und nahmen nun die Ver-pflegungseinrichtungen in Augenschein. Wieder einmal Donuts, wie es aussah. Zehn Minuten, nachdem sie von der Interstate abgebogen waren, saßen die vier wieder im Wagen und hielten ostwärts auf Oklahoma zu. Nach weiteren 20 Minuten erreichten sie die Grenze des Bundesstaats.
Rafi und Zuhayr waren nun wach und unterhielten sich im Fond des Wagens.
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