12 - Im Auge des Tigers
Mustafa, der am Steuer saß, hörte zu, ohne sich in das Gespräch einzumischen.
Die Landschaft war flach, in der Topografie ähnlich ihrer Heimat, jedoch wesentlich grüner. Der Horizont war erstaunlich weit entfernt – so weit, dass es auf den ersten Blick unmöglich schien, Entfernungen einzuschätzen. Die Sonne stand noch tief und blendete Mustafa, bis ihm die Sonnenbrille in seiner Brusttasche einfiel. Damit ging es etwas besser.
Mustafa machte eine innere Bestandsaufnahme seiner derzeitigen Verfassung: Er fand das Fahren angenehm, die 264
Landschaft ansprechend und die Arbeit – wenn man es denn so nennen wollte – leicht. Etwa alle anderthalb Stunden erblickte er mal ein Polizeiauto, das seinen Ford für gewöhnlich mit einem ziemlichen Zahn überholte – zu schnell, als dass die Polizisten darin ihn und seine Freunde deutlich hätten sehen können. Sich genau an das Tempoli-mit zu halten, war ein guter Tipp gewesen. Sie kamen zügig voran, wurden jedoch regelmäßig überholt, selbst von gro-
ßen Trucks. Indem sie sämtliche Vorschriften buchstabenge-treu einhielten, waren sie gewissermaßen unsichtbar für die Polizei, deren Hauptaufgabe darin bestand, diejenigen zu bestrafen, die es zu eilig hatten. Mustafa war zuversichtlich
– er sah die Sicherheit ihrer Mission in keiner Weise gefährdet. Wenn etwas schief gegangen wäre, hätte sich schon längst jemand an sie drangehängt, oder sie wären auf einem besonders einsamen Abschnitt des Highway in eine Falle gelockt worden, wo sie viele, viele Feinde mit vorgehalte-nen Gewehren erwartet hätten. Doch es war nichts dergleichen geschehen. Ein weiterer Vorteil des strikt vorschrifts-mäßigen Fahrens war, dass jeder, der ihnen folgte, zwangsläufig auffiel. Ein Blick in den Rückspiegel hätte genügt.
Aber niemand hielt sich länger als ein paar Minuten hinter ihnen. Wenn ein Polizist sie gejagt hätte, wäre es garantiert ein Mann, zwischen Anfang zwanzig und Ende dreißig mit konservativem Haarschnitt. Ein professioneller Verfolger würde nur ein paar Minuten lang hinter ihnen bleiben und dann aus ihrem Blickfeld verschwinden, während ein anderer die Beschattung fortsetzte. Solche Leute waren natürlich nicht dumm, aber berechenbar in ihrer Vorgehensweise.
Bestimmte Autos würden verschwinden und später wieder auftauchen. Doch Mustafa war wachsam, und bisher hatte sich kein Wagen mehr als einmal in seinem Blickfeld gezeigt. Natürlich hätte man sie auch aus der Luft beobachten können, ein Hubschrauber wäre allerdings ziemlich auffällig gewesen. Die einzige wirkliche Gefahr bestünde in einem kleinen Starrflügler, doch man konnte sich nicht über 265
alles den Kopf zerbrechen. Wenn es geschrieben stand, dann stand es geschrieben, und man vermochte sich nicht davor zu schützen. Im Augenblick war die Straße frei und der Kaffee ausgezeichnet. Es würde ein schöner Tag werden. OKLAHOMA CITY 36 MEILEN, verkündete das grü-
ne Straßenschild.
NPR gab bekannt, Barbra Streisand habe Geburtstag – eine geradezu lebenswichtige Information für den Tagesbeginn, sagte sich John Patrick Ryan jr. wälzte sich aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Ein paar Minuten später stellte er fest, dass seine mit einer Zeitschaltuhr gesteuerte Kaffeemaschine planmäßig funktionierte und zwei Tassen in die weiße Plastikkanne getröpfelt hatte. Er beschloss, auf dem Weg zur Arbeit bei McDonald’s vorbeizufahren, um sich einen Egg McMuffin und Kartoffelpuffer zu holen.
Nicht gerade ein gesundes Frühstück, aber sättigend, und mit 23 machte er sich keine übergroßen Sorgen um Cholesterin und Fett, wie sein Vater es dank seiner Mutter tat.
Mom war um diese Zeit bestimmt schon angezogen und bereit, sich von ihrem Leibwächter vom Secret Service zur Frühschicht zum Hopkins fahren zu lassen. Wenn eine Operation anstand, trank sie morgens keinen Kaffee, weil sie fürchtete, dann keine ruhige Hand zu haben – ihr Skal-pell könnte dem armen Teufel das Gehirn aufschlitzen, nachdem es den Augapfel aufgespießt hatte wie ein Zahn-stocher die Olive im Martini (wie sein Vater zu witzeln pflegte, woraufhin Mom ihm meist spielerisch eine Ohrfei-ge versetzte). Wenn sie aus dem Haus war, machte sich Dad an seine Memoiren, wobei ihm ein Ghostwriter zur Hand ging (sehr zu seinem Widerwillen, aber der Verlag hatte darauf bestanden). Sally war in der Praktikumsphase ihres Medizinstudiums – was genau sie gerade tat, wusste Jack nicht. Katie und Kyle machten sich um
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