12 - Im Auge des Tigers
ihrem Reich einzuverleiben – ein Schmankerl der Militärge-517
schichte, das allerdings nicht auf der offiziellen Leseliste des Marine Corps gestanden hatte. Die Österreicher waren überwiegend katholisch – da auch das Herrscherhaus der Habsburger katholisch gewesen war –, aber das hatte dieses Volk nicht daran gehindert, ihre zahlreiche und wohlhabende jüdische Minderheit auszulöschen, nachdem Hitler ihr Land dem Großdeutschen Reich angegliedert hatte. Das war nach der Anschluss-Volksabstimmung von 1938 gewesen. Hitler war nicht, wie viele Amerikaner glaubten, in Deutschland geboren, sondern in Österreich, und viele seiner Landsleute waren mit der Zeit – vermutlich aus einem Loyalitätsgefühl heraus – zu überzeugteren Nazis geworden als der Führer selbst.
Ungeachtet dessen war Wien ganz die alte Kaiserstadt, der mit ihren breiten, herrschaftlichen Alleen und der klas-sizistischen Architektur noch immer ein Flair von vergangener Größe anhaftete. Brian dirigierte seinen Bruder direkt zum Hotel Imperial am Kärntner Ring, das aussah wie ein Nebengebäude von Schloss Schönbrunn.
»Eins muss man denen lassen, Aldo«, bemerkte Dominic.
»An unserer Unterbringung wird wirklich nicht gespart.«
Das Innere des Gebäudes war sogar noch beeindruckender. Der vergoldete Stuck und die lackierten Holzschnitze-reien zeugten von einem handwerklichen Niveau, wie man es sonst nur aus dem Florenz der Renaissance kannte. Die Rezeption im nicht sehr großen Foyer konnte man schon deshalb unmöglich verfehlen, weil das Hotelpersonal dahinter so unverkennbar gekleidet war wie ein Trupp Marines in Ausgehuniform.
»Guten Tag«, begrüßte der Portier die beiden. »Sind Sie die Herren Caruso?«
»Ganz recht.« Der Kerl konnte offenbar hellsehen, dachte Dominic erstaunt. »Für meinen Bruder und mich müssten Zimmer reserviert sein.«
»Selbstverständlich, Sir«, bestätigte der Portier, der sein Englisch in Harvard gelernt zu haben schien, mit geradezu 518
überschwänglichem Diensteifer. »Zwei Zimmer mit Verbindungstür und Blick auf die Straße.«
»Sehr gut.« Dominic zückte seine schwarze American-Express-Card und reichte sie dem Portier.
»Danke sehr.«
»Gibt es Nachrichten für uns?«, fragte Dominic.
»Nein, Sir.«
»Könnte sich wohl jemand um unser Auto kümmern? Es ist ein Leihwagen. Wir wissen noch nicht, ob wir ihn behalten oder zurückgeben.«
»Selbstverständlich, Sir.«
»Danke. Können wir jetzt unsere Zimmer sehen?«
»Aber natürlich. Sie sind in der ersten Etage – pardon, in Amerika bezeichnet man das natürlich als die zweite.«
Dann rief er: »Franz!«
Das Englisch des Hoteldieners war genauso gut. »Wenn Sie mir bitte folgen würden, meine Herren.« Kein Aufzug, sondern eine mit rotem Teppich ausgelegte Treppe, an deren oberem Absatz ein Gemälde prangte. Das Bild zeigte einen Mann in voller Lebensgröße, der in seiner weißen Paradeuniform und mit dem kunstvoll gekämmten Backen-bart ungemein wichtig aussah.
»Wer ist das denn?«, fragte Dominic den Hoteldiener.
»Kaiser Franz Joseph, Sir. Er hat das Hotel anlässlich seiner Eröffnung im 19. Jahrhundert besucht.«
»Aha.« Das erklärte die Haltung des Hotelpersonals. Jedenfalls gab es am Stil dieses Hauses nicht das Geringste auszusetzen.
Keine fünf Minuten später hatten die Zwillinge sich in ihrer neuen Bleibe eingerichtet. Brian kam in das Zimmer seines Bruders herüber. »Mein lieber Mann – das hier über-trifft sogar die Wohnräume des Präsidenten im Weißen Haus.«
»Meinst du?«
»Das meine ich nicht nur, das weiß ich sogar, Brüderchen.
Bin schließlich schon mal dort gewesen. Onkel Jack hat 519
mich nach der Verleihung meines Offizierspatents mit nach oben genommen – das heißt, nein, nach der Basic School.
Dieses Hotel ist echt der Hammer. Würde mich mal interessieren, was so ein Zimmer hier kostet.«
»Das kann uns doch egal sein. Es wird von meinem Kar-tenkonto abgebucht. Und unser Freund wohnt gleich um die Ecke im Bristol. Gar nicht so übel, reiche Säcke zu jagen, hm?« Das erinnerte die beiden an den Zweck ihres Aufenthalts in Wien. Dominic holte das Notebook aus seiner Reisetasche. Im Imperial war man darauf vorbereitet, dass Gäste ihren Computer mitbrachten – für schnelle Internet-anschlüsse war gesorgt. Als Erstes öffnete Dominic das jüngste Dokument. Zuvor hatte er es nur kurz überflogen.
Jetzt nahm er sich Zeit, es Wort für Wort zu studieren.
Granger ließ sich die
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