12 - Im Auge des Tigers
fühlte sich Jack wohler, wenn er mit beiden Beinen auf festem Boden stand. Er suchte sich ein Mercedes-Taxi, dessen Fahrer ganz passables Englisch sprach und den Weg zum Hotel wusste.
Schnellstraßen sahen überall auf der Welt gleich aus, und einen Augenblick lang musste sich Jack besinnen, wo er eigentlich war. Der Flughafen lag in einer ländlichen Gegend. Jack bemerkte, dass die Dächer der Häuser weniger steil waren als zu Hause in den Staaten – offenbar schneite es hier nicht viel. Es war Spätfrühling und so warm, dass man ein kurzärmeliges Hemd tragen konnte, aber überhaupt nicht drückend. Einmal hatte Jack seinen Vater zu einem offiziellen Anlass nach Italien begleitet – irgendein Wirtschaftstreffen, soweit er sich erinnern konnte –, aber damals war er die ganze Zeit in einem Botschafts wagen herumkutschiert worden. Es machte zwar Spaß, sich als Prinz zu fühlen, aber man lernte auf diese Weise nicht, sich in einer fremden Umgebung zu orientieren. Alles, woran er sich erinnern konnte, waren die historischen Stätten, die er besucht hatte – er hätte jedoch nicht mehr sagen können, 565
wie er dorthin gelangt war. Dies war die Stadt Cäsars und einer Menge anderer Männer, die durch gute oder böse Taten in die Geschichte eingegangen waren. Hauptsächlich allerdings durch böse – das war nun einmal der Lauf der Geschichte. Und das, so rief er sich in Erinnerung, war auch der Grund dafür, dass er, Jack, hier war. Zum Glück war es nicht an ihm, über Gut und Böse in der Welt zu urteilen. Er führte hier nur im Dienst seines Landes eine etwas zwielichtige Mission aus. Die Verantwortung, derartige Entscheidungen zu treffen, ruhte glücklicherweise nicht auf seinen Schultern. Bei aller Macht und Bedeutung, die damit einhergingen, war es sicher kein Vergnügen gewesen, Prä-
sident zu sein – ein Amt, das Jacks Vater etwas mehr als vier Jahre lang ausgeübt hatte. Mit der Macht wuchs auch die Verantwortung, und die musste einem ganz schön zu schaffen machen, sofern man ein Gewissen besaß. Es hatte etwas Tröstliches, anderen die Entscheidung darüber zu überlassen, welche Maßnahmen notwendig waren. Außerdem konnte Jack jederzeit nein sagen, ohne sich gravierenden Konsequenzen auszusetzen – jedenfalls nicht solch gravierenden, wie jene Leute sie zu tragen hatten, mit denen sich seine Cousins beschäftigten.
Die Via Vittorio Veneto machte einen eher geschäftlichen als touristischen Eindruck. Die Bäume am Straßenrand sahen ziemlich schlapp aus. Das Hotel war überraschender-weise weder groß, noch hatte es einen pompösen Eingang.
Jack bezahlte das Taxi und ging hinein. Sein Gepäck trug der Türsteher. Das holzvertäfelte Foyer war höchst ge-schmackvoll, das Personal ausgesprochen freundlich – offenbar eine olympische Disziplin, der man in ganz Europa frönte. Ein Angestellter geleitete Jack zu seinem Zimmer, das mit einer Klimaanlage ausgestattet war. Die Kühle wirkte herrlich erfrischend.
»Entschuldigung, wie heißen Sie?«, fragte er den Hoteldiener.
»Stefano«, antwortete der Mann.
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»Wissen Sie, ob in diesem Hotel ein Mr Hawkins wohnt –
Nigel Hawkins?«
»Der Engländer? Ja, drei Türen weiter. Ist er ein Freund von Ihnen?«
»Ein Freund meines Bruders. Bitte sagen Sie ihm nichts von mir. Ich möchte ihn überraschen.« Jack gab dem Mann einen 20-Euro-Schein.
»Selbstverständlich, Signore.«
»Sehr gut. Danke.«
»Prego«, antwortete Stefano und kehrte ins Foyer zurück.
Das war ziemlich plump, sagte sich Jack, aber irgendwie mussten sie den Vogel ja ausfindig machen, wenn sie schon kein Foto von ihm besaßen. Anschließend griff Jack zum Telefon.
»Sie erhalten einen Anruf«, verkündete Brians Handy mit leiser Stimme. Diesen Hinweis wiederholte es dreimal, bevor er es aus seiner Jackentasche fischte.
»Hallo?« Wer konnte das sein?, fragte er sich.
»Aldo, hier Jack. Ich bin im Hotel – im Excelsior. Soll ich versuchen, für euch beide hier noch Zimmer zu bekommen? Macht einen ganz netten Eindruck. Ich glaube, es würde euch hier gefallen.«
»Moment mal.« Brian ließ das Telefon sinken. »Du wirst nicht glauben, wo der Junior abgestiegen ist.« Weiter brauchte er nichts zu sagen.
»Das ist doch wohl ein Scherz«, erwiderte Dominic.
»Nein. Er fragt, ob er für uns auch Zimmer reservieren soll. Was meinst du?«
»Verdammich…« Dominic überlegte kurz. »Na ja, er ist schließlich unsere nachrichtendienstliche Unterstützung, wie?«
»Mir
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