12 - Im Auge des Tigers
sich das Lachen kaum verkneifen konnte. »Dieser Klassen-Scheiß hat sich da drüben bis heute gehalten. Die begreifen einfach nicht, dass sie sich damit auf den Märkten selbst ein Bein stellen, weil die großen Bosse noch nie für echte Innovation gut waren.
Aber das ist nicht unser Problem.«
Oderint dum metuant, dachte Jack. Einer der wenigen la-teinischen Sätze, die er behalten hatte. Angeblich das persönliche Motto des Kaisers Gaius Caligula: Mögen sie hassen, wenn sie nur fürchten. War die Zivilisation in den vergangenen zwei Jahrtausenden nicht darüber hinausgekommen?
»Was ist denn unser Problem?«, fragte er.
Granger schüttelte den Kopf. »So habe ich das nicht gemeint. Sie mögen uns nicht besonders – im Grunde haben sie uns nie gemocht –, aber gleichzeitig kommen sie auch nicht ohne uns aus. Einige haben seit dem Zerfall der Sowjetunion angefangen, das zu widerlegen, aber wenn sie es jemals ernsthaft versuchen sollten, wird ihnen der Arsch ganz schön auf Grundeis gehen. Verwechseln Sie nie die Ansichten der Aristokratie mit denen des Volkes! Das ist das Problem mit denen: Sie bilden sich tatsächlich ein, die Leute würden sich an ihnen orientieren, aber das tun sie nicht. Die orientieren sich an ihrer eigenen Brieftasche, und der Durchschnittstyp auf der Straße bildet sich schon selbst seine Meinung, wenn er genügend Zeit zum Nachdenken hat.«
»Dann schlägt der Campus aus deren Illusionen Kapital?«
»Sie haben es erfasst. Soll ich Ihnen mal was sagen – ich hasse Seifenopern. Und soll ich Ihnen auch verraten, warum?« Er erntete einen verständnislosen Blick. »Ganz einfach, Jack: weil sie so verdammt genau die Wirklichkeit abbilden. Das wirkliche Leben – selbst auf diesem Niveau –
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strotzt von beschissenen Lügnern und aufgeblähten Egos.
Von wegen, Liebe regiert die Welt – auch Geld regiert sie nicht. Die Lüge regiert sie.«
»Hey, ich hab ja schon einiges an Zynismus zu hören gekriegt, aber…«
Granger schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Das ist kein Zynismus! Das ist die menschliche Natur.
Das Einzige, was sich in zehntausend Jahren belegter Geschichte nicht geändert hat. Ich frage mich, ob es das jemals tun wird. Klar, die menschliche Natur hat auch ihre guten Seiten: Wohltätigkeit, Opferbereitschaft, manchmal sogar Mut – und Liebe. Liebe hat durchaus einen Stellenwert.
Sogar einen sehr hohen. Aber damit einher gehen Geiz, Habgier, Neid und sämtliche sieben Todsünden. Jesus scheint gewusst zu haben, wovon er sprach, hm?«
»Ist das Philosophie oder Theologie?« Und ich dachte, hier geht es um nachrichtendienstliche Angelegenheiten, dachte der junge Ryan im Stillen.
»Ich werde nächste Woche fünfzig. Zu früh gealtert und zu spät klug geworden. Hat vor hundert Jahren oder so mal irgendein Cowboy gesagt.« Granger grinste. »Das verdammte Problem ist: Wenn einem das klar wird, ist man schon zu alt, um noch was dran zu ändern.«
»Was würden Sie denn ändern – eine neue Religion gründen?«
Granger kicherte in sich hinein und wandte sich seiner privaten Kaffeemaschine – einer Gevalia – zu, um seine Tasse neu zu füllen. »Nein, ich hab keinen brennenden Busch im Garten stehen. Tief schürfende Gedanken hin oder her – vor allem muss man erst mal den Rasen mähen und was zu essen auf den Tisch bringen. Und – in unserem Fall – sein Land verteidigen.«
»Und was unternehmen wir nun wegen dieser Sache in Deutschland?«
Granger warf noch einen Blick auf das Material und überlegte kurz. »Im Augenblick gar nichts, aber wir behalten im 141
Hinterkopf, dass Dieter bei Claude den einen oder anderen Punkt gemacht hat, den er vielleicht in sechs Monaten einlösen wird. Der Euro ist noch zu jung, als dass man schon absehen könnte, wie sich die Sache weiter entwickelt. Die Franzosen denken, dass Paris die finanzielle Führungsrolle in Europa übernehmen wird. Die Deutschen denken dasselbe von Berlin. Tatsächlich wird das Land mit der stärks-ten Wirtschaft und der effizientesten Arbeiterschaft sie er-gattern. Und das wird nicht Frankreich sein. Die haben zwar recht fähige Ingenieure, aber die Bevölkerung ist nicht so gut organisiert wie die deutsche. Wenn ich einen Tipp abgeben müsste – ich würde auf Berlin setzen.«
»Das wird den Franzosen nicht gefallen.«
»Davon können Sie ausgehen, Jack, davon können Sie ausgehen«, gab Granger zurück. »Teufel auch – die Franzosen haben Atomwaffen, und die Deutschen haben
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