12 Stunden Angst
Affäre könnte auffliegen.
Die Versuchung war groß, nach Norden zu fahren. Eine SMS genügte, und Danny würde sie auf der Lichtung erwarten, auf der sie sich immer trafen. Offiziell galt die kreisrunde, fünfzehn Meter durchmessende, mit saftigem Gras und Klee überwachsene Lichtung als Futterstelle für Rotwild. Sie beide hatten oft auf diesem duftenden grünen Teppich gelegen und die Wolken beobachtet, die über den runden Himmelsausschnitt hinweggezogen waren. Um zu der Lichtung zu gelangen, benutzte Laurel ein kleines Tor in dem Stacheldrahtzaun, der die Deerfield Road säumte. Danny hatte ihr einen Schlüssel gegeben, den sie in einem Reißverschlussfach ihrer Handtasche aufbewahrte.
Laurel kämpfte mit sich, als sie vor einer roten Ampel hielt. Fünf Wochen ohne Danny hatten eine ständige unterschwellige Geilheit in ihr erweckt. Die Kreuzung, an der sie nun wartete, stellte sie vor die Wahl: Bog sie nach links ab, führte der Weg nach Hause. Bog sie nach rechts ab, ging es zu Danny. Trotz der Sehstörungen, die zwischenzeitlich stärker geworden waren, verspürte Laurel den Zwang, nach rechts abzubiegen. Zwei oder drei der überwältigenden Orgasmen, die sie jedes Mal mit Danny erlebte, würden ihre Migräne vielleicht im Keim ersticken. Doch wo wäre sie dann? Wieder in eine Affäre mit einem Mann verstrickt, der seine Frau nicht verlassen wollte – besser gesagt, seinen Sohn. Sie würde wieder die rechtlose Rolle der Geliebten spielen, die Frau zweiter Klasse.
Laurel bog nach links ab und trat wütend das Gaspedal durch. Als sie sich den schmucken Neubauten von Avalon näherte, wurde ihr einmal mehr die Eintönigkeit der Wohnsiedlung bewusst: makellos gemähte Rasenflächen, Ozeane aus pinkfarbenen Azaleen, kunstvoll gepflanzte Magnolien, Grundstücksmauern aus Ziegelstein, schmiedeeiserne Tore und Häuser im Kolonialstil. Doch diese Idylle war Lug und Trug: Die Ehen vieler Paare, die hier wohnten, befanden sich in verschiedenen Stadien der Auflösung – jedenfalls kursierten im Lehrerzimmer entsprechende Gerüchte.
Als Laurel in ihre Straße einbog, den Lyonesse Drive, gewann der Instinkt die Oberhand über den Stolz. Sie klappte ihr geheimes Handy auf und schrieb Danny eine SMS, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Laurel hatte im letzten Jahr so viele Textnachrichten verschickt, dass sie die Tastatur ihres Handys so blind beherrschte wie ein Highschool-Teenager.
Gib mir 30 min, tippte sie.
Laurel schob das Handy zurück in die Tasche und fuhr in überhöhtem Tempo über die Bodenschwellen, sodass die Stoßdämpfer die Schläge kaum auffangen konnten. Sie brauchte dringend eine Injektion Imigran zur Abwehr der Migräneattacke. Noch dringender aber brauchte sie Danny. Bilder vergangenerLiebesspiele zerstoben in einem weiteren schmerzhaft grellen Funkenschauer. Laurel zog die Schultern hoch und den Kopf ein in Erwartung des ersten brutalen Hammerschlags gegen die Seite ihres Schädels, aber noch blieb er aus.
Wieso will ich eigentlich zu Danny?, fragte sie sich. Um ihm mein Herz auszuschütten?
Und wenn sie schwanger war? Würde Danny seinen autistischen Sohn aufgeben und sich für ein Kind entscheiden, von dem er nicht einmal wusste, ob es sein eigenes war? Was, wenn er eine Abtreibung vorschlug?
Bei diesem Gedanken kam Laurel ihr Vater in den Sinn, den sie seit mehr als drei Jahren nicht gesehen hatte. Meine Güte, was würde er schwadronieren wegen ihrer Situation! Aber wenigstens darüber musste sie sich nicht den Kopf zerbrechen: »Reverend« Tom Ballard war noch immer auf seinem missionarischen Trip, einer endlosen Reise durch die Vereinigten Staaten zwecks Rekrutierung frischer Seelen für eine christliche Sekte. Laurels Vater war ein Laienprediger, der mehr Geld und Zeit auf die Kinder anderer Leute verwandt hatte als auf seine eigenen. Auf dem Papier war Tom Ballard Baptist, doch in Wirklichkeit unterhielt er eine Wanderzeltshow, die auf seinen eigenen unkonventionellen Überzeugungen basierte. Seine ursprüngliche Gemeinde war Ferriday, Louisiana, siebzig Kilometer flussaufwärts von Athens Point. Dieses elende Kaff hatte neben Tom Ballard Typen wie Jimmy Swaggart und Jerry Lee Lewis hervorgebracht, und Tom trug den Geist von beiden in sich. Von Natur aus nichtsesshaft, reiste er unermüdlich durch die Weltgeschichte, um seine Version der Frohen Botschaft zu verkünden, die stets mit Musik verbunden war, mit Ekstase und Ohnmachtsanfällen, manchmal auch mit einem intimen
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