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12 Stunden Angst

12 Stunden Angst

Titel: 12 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Handauflegen.
    Laurels früheste und peinlichste Kindheitserinnerung war, als sie in irgendeinem US-Bundesstaat am Straßenrand gehockt hatte, während ihr Vater versuchte, eine der schäbigen Rostlauben zu reparieren, die er immer so lange gefahren hatte, bis sie den Geist aufgaben. Die kleine Laurel wartete in stummer Wut,frierend oder schwitzend, je nach Jahreszeit, während ihre Mutter ihren Ehegatten anflehte, ihr zu erlauben, einen vorbeikommenden Autofahrer anzuhalten (im Klartext: einen Mann, der praktischer veranlagt war als der Verrückte, dem sie ihr Glück und ihre Zukunft anvertraut hatte). Tom war kein schlechter Kerl, aber ein erbärmlicher Vater. Die beiden einzigen Dinge, die Laurel einfielen, wenn sie an ihn dachte, waren seine Rastlosigkeit und seine Bücher. Seine alte Bruchbude in Ferriday enthielt mehr Bücher als viele der herrschaftlichen Häuser in der Umgebung des Country Clubs in Athens Point. Laurel hatte ihre frühe Jugend damit verbracht, eine mottenzerfressene Ausgabe der Cambridge History of the Ancient World zu lesen – sämtliche fünfzehn Bände – und sich geschworen, eines Tages einen Mann zu heiraten, der in jeder Hinsicht das Gegenteil von ihrem Vater war.
    In Warren Shields hatte sie diesen Mann gefunden. Warren, der Ordnungsfanatiker, hatte über alles und jeden Buch geführt. Schon mit zwanzig besaß er ein lückenloses Fahrtenbuch seines Wagens mitsamt Verzeichnis sämtlicher Reparaturen und Inspektionen. Im Nachhinein betrachtet hätte ihr das eine Warnung vor einer extrem pedantischen Persönlichkeit sein müssen, doch für Laurel waren Warrens akribische Aufzeichnungen so etwas wie Bojen, die die Einfahrt in einen sicheren Hafen markierten. Warren entstammte keiner wohlhabenden Familie, doch er hatte bereits während seines ersten Jahres an der medizinischen Fakultät damit angefangen, Aktien zu kaufen und sich auszurechnen, welche Wertpapiere es ihm erlauben könnten, möglichst früh in den Ruhestand zu treten.
    Erst viel später sah Laurel die düstere Seite dieser Charaktereigenschaften, beispielsweise ein striktes Haushaltsbudget, das ihr kaum genügend Geld übrig ließ, um sich schicke Sachen zu kaufen. Laurel hatte erkennen müssen, dass finanzielle Sicherheit sehr kostspielig für die Seele sein konnte.
    Doch auch Warren musste erfahren, dass sein Leben sich nicht so entwickelte, wie er es geplant hatte. Während seines zweiten Jahres als Assistenzarzt in Boulder, Colorado – ein Leben, dasLaurel geliebt hatte –, war bei seiner Mutter eine fortschreitende Nervenkrankheit diagnostiziert worden. Warrens Vater, ein Schuldirektor, der sein Leben lang Härte gepredigt hatte, hatte sich als kläglich unfähig erwiesen, seine Frau zu pflegen, während sie dem Tod entgegensiechte. Und da Warrens Mutter sich weigerte, zwecks palliativer Pflege nach Colorado zu ziehen (sie behauptete, sich um ihren Mann kümmern zu müssen, solange sie noch könne), beschloss Warren, ein Urlaubsjahr einzulegen, um nach Hause zurückzukehren und seine Mutter dort zu pflegen. Laurel verstand zwar die Motive ihres Mannes, doch sie hatte jahrelang an Behindertenschulen unterrichtet, um seine Ausbildung zu finanzieren, und hatte nun endlich mit dem ersehnten eigenen Studium der Architektur angefangen. Doch ihre Proteste nutzten nichts: Als Warren sie unter Druck setzte, gab sie nach, und sie kehrten nach Athens Point zurück.
    Mrs. Shields lebte länger, als von den Ärzten prophezeit, und das Urlaubsjahr dehnte sich mehr und mehr. Warren nahm eine Stelle in einer örtlichen Praxis für Allgemeinmedizin an, und zum ersten Mal kam gutes Geld ins Haus. Schließlich ließ Mrs. Shields ihren Sohn und ihre Schwiegertochter wissen, dass es eine Sache gab, die Freude in ihre letzten Tage bringen könne: die Geburt eines Enkelkinds. Diesmal wehrte Laurel sich mit Händen und Füßen, den Blick auf den immer weiter zurückweichenden Horizont einer glücklichen gemeinsamen Zukunft gerichtet. Andererseits – wie konnte sie die letzte Bitte von Warrens Mutter ausschlagen? Nach einigen heftigen Auseinandersetzungen gab sie nach, und neun Monate später wurde Grant geboren. Mrs. Shields lebte noch weitere zehn Monate, und Grant brachte zweifellos Freude und Licht in diese letzte Etappe ihres Lebens.
    Weniger als einen Monat nach ihrem Begräbnis, als Laurel ihren Mann bearbeitete, endlich nach Colorado zurückzukehren, erlitt Warrens Vater einen schweren Herzinfarkt. Dreißig Sekunden, nachdem sie den

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