12 Stunden Angst
Anruf erhalten hatten, war Laurel klar geworden, dass sie Colorado nie wiedersehen würde.
Sie versuchte, das Beste aus ihrem Leben in Athens Point zumachen. Da es hier kein College gab – ganz zu schweigen von einer Möglichkeit, ihr Architekturstudium weiterzuführen –, trat sie den einschlägigen Clubs bei, denen Ärztefrauen angehörten: dem Junior Auxiliary, dem Medical Auxiliary, dem Garden Club und dem Lusahatcha Country Club. Sie ging brav in die Kirche und unterrichtete sogar in der Sonntagsschule – ein großes persönliches Opfer angesichts ihres Hintergrunds. Doch nichts von alledem konnte ihr den Traum ersetzen, den sie aufgegeben hatte. Stattdessen litt sie unter einer immer stärkeren emotionalen Anspannung, die bald kaum noch zu kontrollieren war. Jahrelang versuchte sie mit herkömmlichen Mitteln dagegen anzukämpfen: Step Aerobics, Tae Bo, Lesegruppen (ausnahmslos Tussi-Literatur; die Handlungsweise der Heldinnen machte sie so wütend, dass sie am liebsten den Kopf auf die Tischplatte gerammt hätte). Sie hatte sogar bei verschiedenen Walking-Gruppen mitgemacht in der Hoffnung, eine Freundin zu finden, die ihren Frust teilte. Doch in keinem der Clubs, in keiner der Gruppen fand Laurel eine verwandte Seele.
Einen Job anzunehmen war ihre ultima ratio gewesen. Tatsächlich hatte das Unterrichten lernbehinderter Kinder gleich mehrere Probleme auf einen Schlag gelöst: Es gab ihrem Leben wieder einen Sinn und ersparte ihr zugleich die ermüdenden Verpflichtungen in den Clubs, die ihr ohnehin unsinnig erschienen im Vergleich zu der erfüllenden Aufgabe, sich um ihre Schüler zu kümmern. Außerdem verdiente sie wieder eigenes Geld, das sie ausgeben konnte, wie sie wollte, ohne den misstrauisch-prüfenden Blick ertragen zu müssen, mit dem Warren sie stets bedachte, sobald sie sich eine Extravaganz leistete, und mochte sie noch so unbedeutend sein. Vor allem hatte Laurel dem Unterricht die Bekanntschaft mit Danny zu verdanken – jene verwandte Seele, nach der sie so lange gesucht hatte, und obendrein ein leidenschaftlicher Liebhaber.
Und genau das hat mich dahin gebracht, wo ich jetzt bin, dachte sie voller Bitterkeit, während sie die blumengesäumte Auffahrt der Elfmans passierte und sich ihrem Haus näherte, das ein Stück weiter auf einem kleinen Hügel stand, die zeitgenössischeVersion einer Villa im Kolonialstil. Laurel hatte ihr Heim selbst entwerfen wollen, in Zusammenarbeit mit einem Architekten – das eine Jahr Architekturstudium hatte sie mit der Bedienung aktueller CAD-Programme vertraut gemacht –, doch Warren war dagegen gewesen und hatte ein halbes Dutzend Ausreden für seinen Widerstand bemüht. Der wahre Grund seiner Ablehnung indes war viel simpler: Warren wusste, dass ihr Haus vollkommen anders aussehen würde als sämtliche Häuser in Avalon, falls er Laurel den Entwurf überließ, und das widersprach seinem Hang zur Konformität. Warren konnte die Vorstellung nicht ertragen, sein Haus könne die sorgsam entwickelte Einförmigkeit der Siedlung stören. Und so wohnte Laurel schließlich in einem Haus ganz ähnlich denen ihrer Nachbarn – ein Haus, das sie lediglich als eine weitere unpersönliche Zelle in dem Bienenstock mit Namen Avalon betrachtete.
Sie bog in die Auffahrt ein und trat auf die Bremse.
Warrens Volvo stand noch in der Garage.
Laurel verharrte, den Fuß auf dem Bremspedal, unschlüssig, was sie tun sollte. Eine innere Stimme riet ihr, zurückzusetzen und zu verschwinden, doch es gab keinen rationalen Grund dafür. Abgesehen davon hatte Warren sie vielleicht schon kommen sehen, denn die Auffahrt lag direkt im Blickfeld der Küche.
Warum ist er noch zu Hause?, fragte sie sich. Oder ist er früher zurückgekommen, zum Mittagessen? Nein, er war spät dran, als ich heute Morgen zur Schule gefahren bin. Wenn er nicht im Krankenhaus war und gleich in die Praxis gefahren ist, müsste er seine Patientenbesuche in der Mittagspause machen und wäre nicht hier. Ist er etwa schon den ganzen Morgen zu Hause?
Nein, unmöglich. Warren ließ nicht von seiner Arbeit, es sei denn, er war ernsthaft krank. Es brauchte schon eine ausgewachsene Grippe, um ihn im Haus zu halten.
Dann tauchte ein beängstigender Gedanke in dem Meer aus Spekulationen auf:
Was, wenn er die e.p.t.-Schachtel gefunden hat? Den benutzten Teststreifen?
»Nein«, sagte Laurel laut. »Niemals.«
Oder hat Mrs. Elfman etwas gesehen? Hat die alte Hexe beobachtet, wie ich die Tüte aus dem
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