12 - Wer die Wahrheit sucht
Tatort gefunden worden war. Aber sie verfügte jetzt über neue Erkenntnisse, die sie hätten veranlassen müssen, den ganzen Fall neu aufzurollen. Aber dazu war sie offenbar nicht bereit. Kein Wunder, dass bei solchen Verhältnissen immer wieder Unschuldige ins Gefängnis wanderten und das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Rechtsstaat Zynismus gewichen war.
»Inspector Le Gallez«, begann St. James vorsichtig, »auf der einen Seite haben wir einen Multimillionär, der ermordet wurde, und eine Verdächtige, die von seinem Tod nicht profitiert. Auf der anderen Seite wissen wir von Personen in seiner Umgebung, die höchstwahrscheinlich eine beträchtliche Erbschaft erwarteten. Da wäre einmal der Sohn, der praktisch enterbt wurde; zwei mit dem Toten nicht verwandte Jugendliche, die ein kleines Vermögen erhalten; und mehrere Personen mit enttäuschten Hoffnungen, die sie sich offenbar in Zusammenhang mit Plänen Brouards, ein Museum zu errichten, gemacht hatten. Da purzeln doch die Mordmotive nur so! Sie außer Acht zu lassen, weil -«
»Er war in Kalifornien. Er wird ihr dort begegnet sein. Das Motiv wurzelt in dieser Zeit.«
»Aber die anderen Personen haben Sie gar nicht überprüft, nicht wahr?«
»Keiner von ihnen war in Kal -«
»Ich spreche nicht von Reisen nach Kalifornien«, unterbrach St. James. »Ich spreche von dem Morgen, an dem der Mord verübt wurde. Haben Sie überprüft, wo sich da die anderen Personen aufhielten? Adrian Brouard, die Leute, die mit dem Museum zu tun hatten, die Jugendlichen, Angehörige von ihnen, die vielleicht dringend Geld brauchten, andere Bekannte von Brouard, seine Geliebte und deren Kinder?«
Le Gallez schwieg, und das war Antwort genug.
St. James ließ nicht locker. »China River war im Haus, das ist wahr. Und es kann auch sein, dass sie Brouard in Kalifornien begegnet ist, das wird sich noch zeigen. Vielleicht ist auch ihr Bruder ihm begegnet und hat die beiden miteinander bekannt gemacht. Aber jetzt mal von dieser Verbindung abgesehen, die vielleicht gar nicht existiert: Verhält China River sich wie eine Mörderin? Hat sie sich irgendwann einmal so verhalten? Sie hat nicht versucht, möglichst schnell von der Bildfläche zu verschwinden, sondern ist am fraglichen Morgen genau nach Plan mit ihrem Bruder abgereist. Sie hat sich auch nicht die Mühe gemacht, ihre Spur zu verwischen. Sie hatte von Brouards Tod keinerlei Nutzen. Sie hatte keinen Grund, ihm nach dem Leben zu trachten.«
»Soweit wir wissen«, warf Le Gallez ein.
»Richtig«, stimmte St. James zu. »Aber ihr die Tat aufgrund von Beweisen anzulasten, die ihr jeder hätte unterschieben können... Sie müssen sich doch im Klaren darüber sein, dass China Rivers Anwalt Sie vor Gericht in der Luft zerreißen wird.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Le Gallez unerschüttert. »Wo Rauch ist, ist auch Feuer.«
»Sie bleiben also dabei.«
»Bis wir diesen Behälter aufstöbern. Dann sehen wir weiter.«
15
Paul Fielder wurde gewöhnlich vom Klingeln seines Weckers wach, eines alten schwarzen Blechdings, das er jeden Abend gewissenhaft aufzog und einstellte, denn es konnte immer sein, dass tagsüber einer seiner kleinen Brüder daran herumgespielt hatte. Doch an diesem Morgen weckte ihn das Klingeln des Telefons, gefolgt von polternden Schritten auf der Treppe nach oben. Er kannte diesen Schritt und schloss rasch die Augen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass Billy zu ihm ins Zimmer kommen würde. Warum sein Bruder überhaupt so früh auf war, war Paul ein Rätsel, es sei denn, er war in der vergangenen Nacht gar nicht schlafen gegangen. Das kam vor. Manchmal blieb Billy im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen, bis es nichts mehr zu sehen gab, und dann rauchte er und hörte Platten auf der alten Stereoanlage ihrer Eltern. Die Musik war immer laut, aber keiner sagte ihm, er solle sie leiser machen, damit die anderen schlafen konnten. Die Zeiten, als noch jemand gewagt hatte, Billy etwas zu sagen, waren längst vorbei.
Die Tür zu seinem Zimmer flog krachend auf, und Paul kniff die Augen noch fester zu. Sein jüngster Bruder, der auf der anderen Seite des kleinen Zimmers schlief, schrie erschrocken auf, und einen Augenblick lang empfand Paul, der glaubte, Billy habe sich ein anderes Opfer gesucht, schuldbewusste Erleichterung.
Aber gleich stellte sich heraus, dass der Aufschrei nur ein Ausdruck von Überraschung gewesen war; im nächsten Moment nämlich bekam Paul einen Schlag auf die Schulter, und
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