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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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angehalten, von der aus ein Fußweg den Hügel hinaufführte. Er hätte sein Fahrrad stehen lassen und dem Pfad durch die Wiesen folgen können, auf denen die rotbraunen Milchkühe weideten. Um diese Jahreszeit gab es hier keine Wanderer, er wäre in Sicherheit gewesen und hätte in der Einsamkeit ruhig darüber nachdenken können, was er als Nächstes tun sollte. Aber er hatte nur Flucht im Sinn, denn er hatte die Erfahrung gemacht, dass auf wütendes Schimpfen Schläge folgten. Lange schon war Flucht für ihn die einzige Rettung.
    Er strampelte also das Tal entlang und entdeckte eine Ewigkeit später, als es ihm endlich einfiel, sich zu fragen, wo er eigentlich war, dass sein Fahrrad ihn an den einzigen Ort gebracht hatte, an dem er je Geborgenheit und Glück gefunden hatte. Er befand sich vor dem Eisentor von Le Reposoir, das wie so oft in der Vergangenheit wie in Erwartung seiner Ankunft offen stand.
    Er bremste ab. Taboo stand hechelnd neben ihm. Ein Messerstich brennenden Schuldgefühls durchzuckte ihn, als ihm die unerschütterliche Treue des kleinen Hundes bewusst wurde. Taboo hatte gebellt, um ihn vor Mr. Ouseleys Ausbruch zu schützen. Er hatte sich dem Zorn eines Fremden ausgesetzt. Und dann war er ohne Zögern mit ihm über die halbe Insel gerannt. Paul ließ krachend sein Fahrrad fallen und kniete nieder, um den Hund zu umarmen. Taboo leckte ihm freudig das Ohr, als hätte sein Herr ihn nicht über seiner Flucht ignoriert und vergessen. Paul musste bei dem Gedanken daran einen Aufschrei unterdrücken. In seinem ganzen Leben hatte er von keinem so viel Liebe empfangen wie von diesem Hund. Nicht einmal von Guy Brouard.
    Aber Paul wollte jetzt nicht an Guy Brouard denken. Er wollte nicht daran denken, wie das Leben in der Vergangenheit mit Mr. Brouard gewesen war, und noch weniger wollte er an die Zukunft ohne Mr. Brouard denken.
    Er tat darum das Einzige, was er tun konnte: Er machte weiter, als hätte sich nichts geändert.
    Er richtete sein Fahrrad auf und trat durch das offene Tor. Statt jedoch aufzusitzen, schob er das Rad unter den Kastanienbäumen hindurch, und Taboo trabte zufrieden neben ihm her. In der Ferne verbreiterte sich die gekieste Auffahrt fächerförmig vor dem steinernen Herrenhaus, dessen Fenster in der trüben Dezembersonne zu blinken schienen.
    Früher wäre er um das Haus herum zum Wintergarten gegangen, um von dort aus einzutreten, hätte in der Küche Halt gemacht, wo Valerie Duffy gesagt hätte: »Na, das ist doch mal eine hübsche Morgenüberraschung!« Und sie hätte ihm zugelächelt und einen Imbiss angeboten, ein selbst gebackenes, süßes Brötchen oder vielleicht einen Teekuchen. Und bevor sie ihn zu Mr. Brouard hätte gehen lassen, der vielleicht in seinem Arbeitszimmer gewesen wäre oder in der Galerie, hätte sie gesagt: »Komm, setz dich, Paul, und sag mir, ob das in Ordnung ist. Ich stell das Mr. Brouard nur auf den Tisch, wenn du mir grünes Licht gibst.« Und dann hätte sie noch gesagt: »Du kannst es damit runterspülen«, und hätte ihm Milch oder Tee oder eine Tasse Kaffee gebracht oder manchmal auch eine Tasse heiße Schokolade, die so köstlich duftete, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Und Taboo hätte auch was bekommen.
    Aber an diesem Morgen schlug Paul nicht den Weg zum Wintergarten ein. Mit Mr. Guys Tod war alles anders geworden. Er ging zu den Stallungen hinter dem Haus, wo Mr. Guy in einer ehemaligen Sattelkammer die Werkzeuge aufbewahrte. Während Taboo sich an den interessanten Gerüchen in Sattelkammer und Stall ergötzte, nahm Paul Werkzeugkasten und Säge, schulterte die bereitliegenden Bretter und trottete wieder hinaus. Er pfiff Taboo, der sofort angerannt kam und zum Teich vorausflitzte, der in einiger Entfernung hinter der Nordwestseite des Hauses lag. Auf dem Weg dorthin musste Paul an der Küche vorbei. Als er durch das Fenster hineinschaute, erkannte er Valerie Duffy. Aber als sie ihm zuwinkte, senkte er den Kopf. Er schob beim Gehen die Füße durch den Kies, um das Knirschen der Steinchen unter seinen Schuhsohlen zu hören. Er mochte das Geräusch, und ganz besonders hatte es ihm immer gefallen, wenn sie zu zweit über den Kies gegangen waren, er und Mr. Guy. Ihre Schritte hatten sich ähnlich angehört, die Schritte von zwei Männern, die an ihre tägliche Arbeit gingen, und dieses Geräusch hatte Paul stets die Gewissheit gegeben, dass alles möglich war, sogar, selbst einmal so zu werden wie Guy Brouard.
    Nicht dass er Mr. Guys

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