120, rue de la Gare
leitet.“
Während ich meinen endlosen Monolog hielt, beobachtete ich das Mädchen aufmerksam. Ich wurde belohnt. Sie hatte mir mit wachsendem Erstaunen zugehört, ohne sich zu rühren. Plötzlich sagte sie mit veränderter Stimme:
„Darum ging es also!“
Sie schlug beide Hände vors Gesicht, ließ sich aufs Bett fallen und weinte leise vor sich hin.
„Wenn das ein Trick sein soll, um Zeit zu gewinnen“, sagte ich barsch, „dann zieht der nicht.“
Mit tränenerstickter Stimme stammelte sie:
„Man wollte... wollte Sie... in die Rhône werfen?“
„Wußten Sie das etwa nicht?“
„Nein... das wußte ich nicht.“
„Ja, ja, genausowenig wie Sie die Doppelgängerin von Michèle Hogan kennen...“
„Doch“, schluchzte das Mädchen, „ich kenne die Frau.“
„Endlich! Name und Adresse?“
„Weiß ich nicht.“
„Geht das schon wieder los!“ rief ich.
„Ich sage Ihnen die Wahrheit. Warum glauben Sie mir nicht? Ach ja, natürlich... Ich kann mir denken, was in Ihnen vorgeht. Wenn man Sie beinahe von der Brücke gestoßen hat...“
„Durch Ihre Schuld!“
„Ja, durch meine Schuld... Aber ich kann nichts dafür.“
„Auch durch halbe Geständnisse kommt am Ende alles raus. Lassen Sie sich ruhig Zeit, ich hab’s nicht eilig. Was haben Sie mit der Frau zu tun? Warum...“
„Ich bitte Sie...“ flehte sie. „Stellen Sie mir keine weiteren Fragen, ja? Ich werde Ihnen alles erzählen.“
„O. k. Aber lügen Sie mich nur in Maßen an.“
„Ich werde Sie nicht anlügen.“
Sie schneuzte sich und trocknete ihre Tränen.
„Ich habe diese außergewöhnlich schöne Frau mehrmals in Begleitung von Paul gesehen“, begann sie. „Ich hielt sie für Pauls Geliebte.“
„Wer ist Paul?“
„Ein Angestellter unserer Agentur, Paul Carhaix.“
„Ach! Wie sieht er aus?“
Die Beschreibung paßte auf unseren Gegner auf der Brücke, soweit ich ihn in der Dunkelheit bei dem kurzen Kampf hatte erkennen können.
„Heute nachmittag in der Agentur“, fuhr das Mädchen fort, „hatte ich das Gefühl, daß Sie an der Doppelgängerin von Michèle Hogan sehr interessiert waren. Da ich wußte, daß Sie der berühmte Nestor Burma sind, sagte ich mir, Pauls Freundin könnte in Gefahr sein. Ich hielt es für besser, erst mal Paul zu informieren. Deshalb hab ich Ihre Frage mit ,nein’ beantwortet. Aber ich lüge sehr schlecht und habe gemerkt, daß Ihnen meine Verlegenheit nicht entgangen ist...“ Sie sah mich beinahe bewundernd an. „Sie haben einen Blick für so was, das muß man Ihnen lassen.“
„Was soll’s?“ sagte ich leichthin. „Ich bin eben Nestor Burma, der Mann, der alle Geheimnisse k. o.-schlägt.“
„Apropos k. o.“, mischte sich Covet ein. „Ihr Opfer wird wach.“ Tatsächlich rührte sich Gérard Lafalaise in seiner neutralen Ecke.
„Nehmen Sie ihm den Knebel raus“, wies ich meinen Freund an.
„Und die Fesseln können Sie mir auch abnehmen“, knurrte der Detektiv. „Ich bin schon eine Weile wieder wach und hab das Geständnis von Mademoiselle Brel mitgekriegt. Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht blind vertraut habe, Burma. Sie haben eben mehr Erfahrung als ich. Entschuldigen Sie, daß ich durch mein Dazwischengehen beinahe...“
„Soll ich Ihnen wieder das Maul stopfen? Aber wo wir schon mal bei Entschuldigungen sind: Tut mir leid, daß ich gezwungen war, Sie niederzuschlagen. Aber ich hatte keine andere Wahl. Und jetzt setzen Sie sich still in eine Ecke und rühren Sie sich nicht! Mademoiselle Brel ist mit ihrer Schneewittchen-Geschichte noch nicht zu Ende. Oder ist es die vom großen, bösen Wolf? Los, erzählen Sie weiter“, ermunterte ich die Sekretärin.
„Wären Sie bitte so freundlich, die Heizung anzustellen?“ bat sie. „Mir ist nicht sehr warm.“
Kein Wunder, in diesem hauchdünnen Negligé! Marc Covet, das Mädchen für alles, kam ihrer Aufforderung nur zu gerne nach. Er hatte sich schon die ganze Zeit fröstelnd die Hände gerieben.
„Als Paul heute abend ins Büro kam“, fuhr Louise Brel fort, „waren Sie schon weg, Monsieur Lafalaise. Ich hab ihm erzählt, was da gegen seine Freundin im Gange war. Sie müssen verstehen, ich konnte nicht glauben, daß diese Frau mit dem sanften Gesicht in eine dunkle Sache verwickelt sein sollte. Und Paul war für mich immer ein anständiger Mensch. Aber nach dem, was Sie mir erzählt haben, muß ich wohl meine Meinung revidieren, fürchte ich.“
„Das fürchte ich auch. Aber kommen wir zur Sache. Was
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