1205 - Wer die Totenruhe stört
Verbrecher?«, fragte ich.
»Nein, Mr. Sinclair. Das ist zu einfach. Er war kein Verbrecher, er war ein Dämon. Ein Nichtmensch. Auch wenn er sich selbst als Engel bezeichnete, man glaubte ihm nicht mehr, denn als er sein wahres Gesicht zeigte, und das meine ich wörtlich, da verschwanden die ersten Menschen.«
»Wahres Gesicht?«
Elsa hatte mich schon verstanden. »Ich weiß, meine Antwort hat etwas verrückt geklungen. Aber es ist so gewesen. Er hatte noch ein anderes Gesicht.«
»Können Sie es beschreiben?«
»Leider nein«, musste sie zugeben. »Ich kenne es auch nur aus Erzählungen oder Überlieferungen. Jedenfalls soll es sehr böse gewesen sein. Er war der Engel mit den zwei Gesichtern.«
Das nahm ich mal so hin, um auf ein anderes Thema zurückzukommen. »Sie haben von den verschwundenen Menschen gesprochen, Mrs. Groof. Können Sie uns da eine konkrete Antwort geben?«
Elsa Groof deutete ein Schulterzucken an. »Sie müssen sich schon damit zufrieden geben, was auch ich aus den Erzählungen kenne. Etwas anderes ist nicht dazugekommen.«
»Bitte.«
»Die Menschen waren weg. Sie… sie verschwanden einfach. Nicht nur hier aus Rootpark, sondern auch aus den anderen Orten. Man nahm es zunächst hin. Man wehrte sich nicht. Die Menschen waren es nicht gewohnt, aufzumucken. Sie standen in einem täglichen Kampf, um das Leben überhaupt meistern zu können. Es war alles andere als einfach für sie, das können Sie mir glauben. Was er mit ihnen genau getan hat, kann ich nicht sagen. Es waren nicht nur Erwachsene. Auch Kinder verschwanden, aber Sie wissen möglicherweise, wie das zur damaligen Zeit gewesen ist. Da hatten die Menschen viele Kinder. Die meisten wurden von den Vätern oft nicht akzeptiert, wenn sie kleiner waren. Man sah sie als unnötige Fresser an. Erst wenn sie größer waren und arbeiten konnten, wurden sie in den Familienbund aufgenommen. Aber ich schweife ab, Verzeihung. Jedenfalls verschwanden die Menschen.«
»Um auf dem Friedhof zu landen«, sagte ich.
»Ja, das stimmt. So hat man es sich erzählt. Und auf dem Friedhof ist auch dieser Vurvolak gelandet, denn er lebte nicht ewig. Die Menschen waren es irgendwann leid. Sie haben sich zusammengeschlossen und ihn getötet.«
»Wie geschah das?«, fragte Suko. »Hat man ihn erschlagen, gevierteilt oder…«
»Nein, nein, es war meine Vorfahrin, die ihn vernichtete. Er wurde überlistet. Man lud ihn zu einem Mahl ein. Ein Rind wurde geschlachtet, man briet das Fleisch über dem offenen Feuer. Man trank viel Schnaps, und auch Vurvolak trank mit, obwohl die Menschen wussten, welch eine Laus sie sich in den Pelz gesetzt hatten. Aber Vurvolak wusste nicht, dass in seinem Becher Gift war. Meine Ahnin Cilly hat das Gift in den Trank gemischt. Sie war nicht nur eine Heilkundige, sie wusste auch, wie bestimmte Kräuter gemischt sein mussten, um einen Menschen zu töten. Man erzählte sich, dass er unter großen Qualen bei diesem Fest starb, und alle haben zugeschaut.«
Ich konnte nicht begreifen, dass Vurvolak so einfach von dieser Welt verschwunden war, und fragte deshalb: »Hat er nichts mehr gesagt, als er merkte, dass er sterben würde?«
»Doch, das hat er leider«, flüsterte Elsa. »Seine Worte sind angeblich haargenau überliefert. Er meinte, dass man ihn so leicht nicht töten könnte. Man kann keinen ins Jenseits schicken, der diese Welt bereits kennt. Ich weiß nicht, was er genau gemeint hat, aber er hatte wohl Recht. Jetzt erleben wir die Folgen. Er war einer, der sich die gottlose Erde auf seine Art und Weise untertan gemacht hat. Oft sah man ihn über den alten Friedhof laufen und schaurig lachen. Die Menschen waren überzeugt, dass er die Verschwundenen dort alle begraben hatte. Es traute sich nur niemand, dort nachzuscha uen.«
»Passierte sonst noch etwas nach seinem Tod?«, erkundigte sich Suko. »Hat es hier vielleicht Veränderungen gegeben?«
»Nein, nicht so offen. Man hat ihn so schnell wie möglich begraben wollen, und man hat ihn auch begraben. Kurz zuvor jedoch, ist über seinen Leichnam eine Katze von links nach rechts gesprungen. Ein schlimmes Omen, wie die Menschen meinten. Sie haben ihn dann so schnell wie möglich begraben. Das alles geschah noch in der gleichen Nacht. Aber kaum war das Grab zugeschüttet, da hörten die Leuten das Grollen aus der Tiefe. Zugleich fing die Erde an zu beben. Nicht wenige erinnerten sich an seine Worte, die er immer öfter wiederholt hatte. Dass er nicht zu töten war. Dass er
Weitere Kostenlose Bücher