1205 - Wer die Totenruhe stört
»Jetzt, wo Sie es sagen, Mr. Sinclair, fällt es mir auch auf. Zuvor habe ich nie darüber nachgedacht, muss ich ehrlich sagen. Aber seltsam ist das schon. Wo die Schotten so katholisch sind.«
»Eben.«
»Kann es sein, dass man sich nicht getraut hat, eine Kirche zu bauen?«, fragte Suko.
»Das ist auch möglich, wenn wir an Vurvolak denken«, flüsterte Craig Averell zurück.
Es war gut, dass er sich bei uns befand, weil er sich hier auskannte. So fuhren wir nicht auf gut Glück in den Ort hinein, sondern hatten ein Ziel. Es war eine Frau. Sie lebte allein in einem kleinen Haus, das sie früher mit ihrem Mann bewirtschaftet hatte. Seit mehr als zehn Jahren war sie schon Witwe, und sie war es auch, die sich in der Geschichte auskannte.
Zumindest was die von Rootpark anging. Die Frau hieß Elsa Groof und lebte etwas abseits der normalen Häuser. Dort stieg das Gelände schon wieder an. In der Nähe des Hauses floss ein schmaler Bach vorbei. Er schlängelte sich durch eine feuchte Wiese, und wir mussten mit dem Wagen über eine enge Steinbrücke rollen, die ein recht brüchiges Holzgeländer hatte, das mir sehr geflickt aussah.
Die Dämmerung hatte ihre ersten Schatten über das Land geschickt. Sie kamen von den Bergen und waren wie Tücher, die sich immer mehr ausbreiteten. Die Schatten schluckten auch die wenigen restlichen Farben der spätwinterlichen Natur und machten selbst die großen Schneeflecken an den Nordhängen dunkel.
Obwohl wir uns noch in Rootpark befanden, kam mir der Ort vor wie eine Erinnerung. Ich hatte ihn als menschenleer erlebt.
Stumm, fast wie anklagend hatten uns die Fassaden der Häuser mit ihren kleinen Fenstern angeschaut. Selbst die Autos, die an den Straßenrändern parkten, kamen mir unnatürlich vor, als gehörten sie gar nicht hierher. Rootpark lag unter einer erwartungsvollen Stille begraben. Wir hatten zwar mit keinem Menschen gesprochen, aber ich ging trotzdem davon aus, dass jeder Bewohner genau Bescheid wusste, was auf dem alten Friedhof passiert war und sich nun den Menschen näherte. Das wurde oft als unausweichliches Schicksal hingenommen. Nicht zum ersten Mal machte ich mit diesem Verhalten Bekanntschaft.
Das kleine Haus der Elsa Groof war an der Nordwestseite ebenfalls durch einen Steinwall geschützt. Dahinter begann eine freie Fläche, auf der im Sommer Schafe weideten. Jetzt waren sie in die Ställe getrieben worden. Sie gaben die einzigen Lebenszeichen überhaupt ab, denn ihr Blöken war nicht zu überhören.
Hier war der Boden noch nicht aufgerissen. Trotzdem scha ukelte der Vauxhall über den Boden hinweg, denn einen echten Weg zum Haus gab es nicht.
Dass wir hinter den kleinen Fenstern mit den zur Seite geklappten Läden Licht sahen, war für mich wie ein Hoffnungsschimmer. Es schien, als würde uns die Frau erwarten. Von Averell wussten wir, dass er sich ihr Vertrauen erschlichen hatte. Durch sie wusste er über die Sagen hier Bescheid, denn jemand wie er war immer auf der Suche nach guten Filmstoffen.
Wir stoppten und stiegen vorsichtig aus, ohne dass wir uns abgesprochen hatten. Aber keiner von uns hatte vergessen, was uns widerfahren war, und so gingen wir mit kleinen Schritten auf die schmale Haustür zu.
»Lassen Sie mich reden«, sagte Craig leise.
»Klar, so war es abgemacht.«
»Gut.« Er konnte wieder lächeln und ging die letzten beiden Schritte auf die Tür zu.
Es gab keine Klingel. Wer hineinwollte, der musste sich durch Klopfen bemerkbar machen. Das brauchte Craig Averell nicht. Die Bewohnerin hatte uns bereits gesehen und öffnete die Tür, als Averell den Arm erhoben hatte.
»Hallo, Elsa.«
Sie sagte nichts. Sie schaute ihn nur kurz an und blickte dann an ihm vorbei.
»Bitte, ich…«
»Du hast Besuch mitgebracht?«, unterbrach sie ihn. Die Stimme klang nicht nur leise, sondern auch weich. Mir war sie sehr sympathisch.
»Ja, Elsa, das sind…«
»Ist es soweit?«
»Ähm - was meinst du?«
»Das weißt du doch.«
»Ja, Elsa.« Er nickte. »Es ist soweit. Ich habe es nicht aufha lten können.«
Sie wirkte beinahe fröhlich, als sie die Antwort gab. »Das habe ich gewusst. Die Anzeichen konnten nicht übersehen werden. Das Beben hatte keinen natürlichen Ursprung. Die anderen wollten es zwar nicht wahrhaben, viele zumindest nicht, aber ich weiß es besser. Kommt rein. Es ist hier noch sicher.«
Sie hatte nicht nach unseren Namen gefragt und wollte auch nicht wissen, wer wir waren. Sie ging nach der Devise vor, dass Averells
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