1212 - Niemand hört die Schreie
erlöst. Vielmehr das Kreuz hatte das bewirkt, das jetzt neben ihr lag. Ich steckte es in meine Tasche und schob dann den linken Arm der Erlösten zur Seite, mit dem sie ihr Gesicht halb abgedeckt hatte. Auch diese Geste hatte ihr nichts mehr genutzt. Der größte Teil des Gesichts war verbrannt. Dort hatte mein Kreuz sein Zeichen hinterlassen, und die Haut war genau dort verbrannt. Dünne Rauchfäden stiegen zitternd in die Höhe.
Für Louise war es vorbei. Sie würde sich nie mehr erheben und das Blut anderer trinken.
Aber es gab noch eine andere Person.
Sie lebte, denn ich hörte hinter mir ihr Stöhnen. Betty Florman würde mir einiges erklären müssen…
***
Ich war auf Nummer sicher gegangen und hatte Betty Florman die Handschellen nicht abgenommen. Jetzt saß sie wieder dort, wo sie vor kurzem schon mal gesessen hatte, nur waren die Umstände anders. Sie schaute mich giftig an und hätte mich am liebsten zur Hölle geschickt.
Ich hatte auch die Chance erhalten, meine Wunde zu säubern.
Es war zum Glück nur ein Streifschuss. Die Kugel hatte mich am Hals getroffen wie ein Faustschlag, aber mehr zum Nacken als zur Kehle hin. Die Wunde hatte ziemlich geblutet. Zum Glück war es mir gelungen, im kleinen Bad ein Pflaster zu finden. Außerdem hatte ich die Umgebung der Wunde notdürftig gesäubert und sah nun wieder aus wie ein fast normaler Mensch auszusehen hat.
Es bedeutet schon etwas, auf eine andere Person zu schießen.
Betty Florman hatte es getan, und das wollte mir auch jetzt kaum in den Kopf. Eiskalt abdrücken. In Kauf nehmen, dass der Andere stirbt. Da musste schon etwas dahinter stecken.
Bestimmt hatte sie nicht gewollt, dass jemand ihr Geheimnis erfuhr. Sie hatte etwas zu verbergen, und sie war zugleich für mich der Beginn des roten Fadens, der mich zum Ziel führte.
Nur - zu welchem Ziel?
Was steckte letztendlich dahinter? Die Basis stand fest. Es ging um die Vampire. Eines dieser Wesen hatte ich erlösen können, und es hatte sich in der Wohnung der älteren Frau versteckt. Oder Louise Baker war von ihr versteckt worden. Ich tendierte eher zu dieser Möglichkeit.
Ich hatte das Zimmer betreten und hielt mich mit Worten zurück. Stumm durchwanderte ich den Raum, schaute überall hin und suchte nach irgendwelchen Hinweisen, die mich meinem eigentlichen Ziel näher brachten.
Ich fand keine. Eigentlich hätte ich lachen müssen, denn ich bewegte mich wirklich durch eine kleinbürgerliche Idylle. Man konnte auch spießig dazu sagen. Nur hütete ich mich, die Menschen so leicht über einen Kamm zu scheren.
Betty Florman gehörte zu den älteren Menschen. Wie die meisten von ihnen hatte sie sich auf die Möbel verlassen, die sie vor Jahren eingekauft hatte. Und an diese Einrichtung hatte sie sich gehalten. Da wollte ich wirklich keinen Stab über sie brechen. Die alte Tapete und der Teppichboden glichen sich irgendwie an. In der Nähe des Ofens zeigte der Fußboden einen grauen Ascheschimmer.
Die Frau schaute mich nicht mehr an. Sie hielt den Blick gesenkt und interessierte sich nur für ihre gefesselten Hände.
Erst als sie meine Schritte nicht mehr hörte, schaute sie hoch.
Ich stand an einer Kommode. Auf ihr verteilten sich mehrere Bilder, die in verschiedenen Rahmen steckten. Die meisten Fotos zeigten die Bewohnerin selbst, aber ich sah auch andere.
Da musste ich zwei Mal hinblicken, um zu sehen, dass es kein Foto war.
Jemand hatte das Bild gemalt. Super. Ausgezeichnet. Sehr naturalistisch. Ich erkannte das Gesicht und den Körper einer Frau bis zu den Hüften hin.
Toll. Ein Schuss, würden manche Männer sagen. Blond, und ein fast perfekter Körper. Auf den vollen Lippen lag ein Lächeln. Ich blickte auf das Gesicht im Halbprofil. Die Augen schauten den Betrachter an mit einem bestimmten Blick. Er war lauernd und lockend zugleich. Er signalisierte allerdings auch eine gewisse Vorsicht, aber das leicht aufgesetzte Läche ln machte dies wieder wett.
Ich hatte in meinem Leben schon viele Frauenbilder gesehen.
Manche nimmt man zur Kenntnis: Andere übersieht man, aber dieses Bild nahm ich auf eine besondere Art und Weise zur Kenntnis, ohne dass ich etwas dagegen hätte unternehmen können.
Ich spürte auf dem Rücken ein leises Frösteln, was nicht unbedingt als negativ eingestuft werden musste. Es war einfach da, und es lag an diesem realistischen Gemälde.
Ich drehte mich von der Kommode weg und schaute über den Tisch hinweg auf Betty Florman. Sie hatte mich nicht aus den Augen
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