1224 - Das Herz der Hexe
Welten begrenzt ist. Nimm es einfach als gegeben und als eine Tatsache hin, auch wenn diese von dir nicht durch logisches Nachdenken erklärt werden kann. Mein Herz hat genau die richtige Person erwischt. Eine große Skeptikerin, die nur an das glaubt, was sie auch sieht. Manchmal ist der Blick dahinter viel interessanter als die Welt der Zahlen.«
Das hatte Amy Madson mittlerweile auch gemerkt. Sie wusste nicht, wie lange sie schon in dieser Einsamkeit stand, denn das Zeitge fühl war ihr verloren gegangen.
Es war auch kein Auto gekommen. Sie blieb in der Dunkelheit, die von keinem Scheinwerferpaar zerrissen worden war.
Auch sie kam ihr jetzt so fremd vor, war auf der anderen Seite auch irgendwie passend, denn die Hexe, die ihr Herz gespendet hatte, war aus dem Dunkel gekommen und existierte noch.
Amy kam eine Frage in den Sinn, die sie flüsternd aussprach:
»Wo kann man als Tote hingehen?«
»Man kann bleiben.«
»Was? In der Welt der Lebenden?«
»Ja, warum nicht?«
Plötzlich spürte Amy die Aufregung doppelt so stark. »Dann… dann hast du nicht aus dem Jenseits Kontakt mit mir aufgenommen? Ist das richtig so?«
»Ja.«
Nein, nein! Sie schüttelte den Kopf. Nur das nicht. Dennoch fragte sie: »Ich könnte dich also sehen?«
»Das kannst du.«
Amy musste erst Luft holen. »Eine Tote! Zugleich eine Person ohne menschliches Herz?«
»Ja.«
Diese schlichte Antwort brachte Amy noch mehr durcheinander. »Und… ahm… wo würde das sein?«
»Wo du willst!«
Wieder war sie überrascht und zuckte zusammen. Diesmal dauerte es, bis sie sprechen konnte. »Demnach auch hier? Ich meine hier an der Straße? Kann ich dich da sehen?«
»Wenn du willst…« Amy hörte noch das leise Lachen, aber sie war mit ihren Gedanken bereits woanders. Sehr deutlich merkte sie, dass sie an einem entscheidenden Punkt angelangt war, und ihr war auch klar, dass sie sich keinen Rückzieher erlauben konnte.
Sie war bisher alle Schritte mitgegangen. Sie hatte sogar einen Menschen umgebracht, was bei ihr nicht mal ein schlechtes Gewissen hinterlassen hatte. Deshalb gab es auch keinen Grund, jetzt und hier zu kneifen und nicht alles zu erfahren.
Amy nickte zaghaft. »Du willst mich also sehen?«
»Ja, gern!«
»Dann schau!«
Ihr war nicht gesagt worden, wohin sie schauen sollte. Sie ließ sich einfach von ihrem Gefühl leiten und richtete den Blick nach vorn, wie sie es schon immer getan hatte.
Die Straße lag leer vor ihr. Auch von den verschiedenen Seiten her näherte sich kein Fahrzeug. Sie sah die andere Seite und entdeckte auch die kargen Sträucher, die dort wuchsen.
Dahinter bewegte sich etwas. Noch war für sie nichts zu erkennen, aber die Bewegung hatte sich Amy auch nicht eingebildet. Sie war tatsächlich vorhanden und schob sich lautlos in der Dunkelheit nach vorn.
Von der Größe her konnte es sich gut und gern um einen Menschen handeln, das war ihr schon bewusst. Nur wollte sie daran nichts so recht glauben, außerdem besaß ein Geist eigentlich keine Gestalt wie ein Mensch. Aber was sich da voranbewegte, das war ein Mensch - oder?
Eine ungewöhnliche Farbe fiel ihr auf. Nicht grün, nicht blau, sondern irgendwo dazwischen liegend. Türkis vielleicht und in ihrem Innern mit einem hellen Schimmern versehen. Diese Farbe blieb, und sie konzentrierte sich einzig und allein auf die Person, die lautlos über den Boden glitt und am gegenüberliegenden Straßenrand stehen blieb. »Hier bin ich…«
***
Amy Madson wusste nicht, ob sie die Stimme normal oder nur in ihrem Kopf gehört hatte. Aber ihr war schon klar, dass sie Xenia vor sich hatte und keine andere geisterhafte Person.
Das musste sie sein!
Amy sagte nichts. Sie konnte den Blick nicht von der Spenderin lösen und stellte fest, dass sie keinen Faden am Leib trug.
Zumindest sah es aufgrund des Lichts so aus.
Xenia war kleiner als Amy. Sie wunderte sich schon darüber, wie klein sie tatsächlich war. Dafür besaß sie sehr lange und sehr dunkle Haare, die weit über ihren Rücken hinwegfielen und erst an den Hüften ihr Ende fanden.
Das Gesicht war klein. Es zeigte menschliche Züge, aber auf Amy machte es einen leicht zusammengedrückten Eindruck, als hätten sich bei ihr die Proportionen verschoben.
So wirkte es sehr breit, was auch an der kleinen und flachen Nase liegen konnte. Darunter war der Mund von den Ausmaßen her noch kleiner, und auch das Kinn war wenig gerundet, sondern lief fast spitz zusammen.
Amy hatte Xenia noch nie zuvor gesehen.
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